Transgenerationale Schuldvererbung – Teil II

Welche Auswirkungen hat die Verdrängung der Schuld in der Gegenwart?

Teil II

Neue Formen der Idealisierung

Die Generation der Kriegskinder idealisiert ihre Aufbaumentalität und ihren Optimismus. Die Generation der Baby-Boomer sind von diesen Fußstapfen meist schon arg gebeutelt und finden ihren Selbstwert vermehrt in Besitz und Karriere, da sie hier ihre Eltern überflügeln können. All das erscheint uns heute normal, auch der Vergleich und der Neid auf den anderen. Dabei vergessen wir oft, dass echter Selbstwert keine Bedingungen stellt, sondern aus dem SoSein entsteht. Wenn man sich das vor Augen führt, wird der transgenerationale Schaden wieder sichtbar. Innerlich blieb oft eine tiefe Verunsicherung, vor allem emotional fühlen sich viele Menschen unvollständig, weil ihre Eltern meist fürsorglich und zugleich unnahbar waren. Mittels dieser Sehnsucht nach Echtheit und Lebendigkeit haben esoterische Bereiche eine neue Blüte gefunden. Der unbewusste Drang hin zur Esoterik ist auch ein Ventil um darüber zu kommunizieren, worüber zu sprechen im Elternhaus nicht möglich war: zutiefst Persönliches, Zweifel, Ängste, Sehnsüchte, Liebe, Selbstbilder, Trauer. Und schließlich ermöglicht es einen neuen Zugang zu sich selbst. Solche zutiefst menschliche Kommunikation von Herz zu Herz wurde mit Zunahme der Idealisierung mehr und mehr unmöglich und in die Zimmer der Psychologen verdrängt. Da der Gang zum Psychologen hierzulande jedoch eine weitere Hemmschwelle darstellt und in vielen Kreisen noch mit einem Stigma behaftet ist (Mit dem/der stimmt etwas nicht), flüchten sich viele in die Lebensberatung der Astrologie. Diese ist in allen Klatsch-Magazinen präsent und daher lässt sich hier auch schnell ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, zumindest innerhalb einer Grauzone. Immer mehr Menschen gehen auch weiter und beschäftigen sich tiefergehend mit dieser Art von Typologie.

[dropcap]T[/dropcap]ypologie bedeutet in erster Linie sich als unterschiedlich von anderen wahrzunehmen, aber auch in einem größeren Zusammenhang mit allen verbunden. Man sieht sich in neuen Zusammenhängen, befragt sich aus neuen Perspektiven – dies stärkt normalerweise die Selbstwahrnehmung. Richtig verstanden ist es nicht mehr als ein Spiel, eine Möglichkeit der Selbsterfahrung, ohne dem zu großen Ernst beizumessen. Nach einer Phase des intensiven Interesses zieht die Aufmerksamkeit weiter. Bei idealisierten Personen(-kreisen) wird hier jedoch dissoziiert, das heisst abgespalten. Gedankliche Systeme werden benutzt um Unterschiede zu zementieren. Eine entwertete Eigenschaft wird als unabänderlich und grundsätzlich verschieden vom Eigenen betrachtet. Eine elitäre Haltung wird aufgebaut, welche die eigenen Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle in den Anderen spaltet.

Jüngste Auswirkungen der Verdrängung

Auch neueste Aggressionen gegen Minderheiten wie beispielsweise PEGIDA, neue „Bürgerwehrformationen“ oder die Angriffe auf Flüchtlingslager wiederholen das Nichtverarbeitete, Verdrängte auf erschreckend offensichtliche Weise. In der Psychoanalyse nennt man dies Wiederholungszwang, welcher sich dadurch kennzeichnet das Nicht-Verarbeitetes selbst als Täter weitergegeben wird. Das persönliche Drama dieser „Ja-Aber“ Haltung ist, dass  man selbst in Licht & Schatten gespalten wird, gewissen Anteilen seiner selbst keine Empathie entgegenbringen kann. Man zieht eine Linie an der das Mitgefühl aufhört, im Innen wie auch im Außen. Im Angriff gegen andere liegt auch ein Einblick in die eigene Verdrängte Innenwelt, die eigene Repression. Im Grunde geht es hier im speziellen um die Schuldfähigkeit ohne das Gefühl der totalen Selbstentwertung. Der zugehörige Abwehrmechanismus ist die Schuldverleugnung und die Fremdentwertung. Sascha Lobo nennt neueste soziale Entgleisungen und Gruppierungen „Aber-Nazis“.

[quote]Ein neuer, alter Typus des Netzbürgers bildet das Fundament für diese Haltung. Er ahnt, dass er mit seinen Statements in trübstmöglichen Gewässern fischt. Und deshalb versucht er, sich davon vorauseilend zu distanzieren: „Ich bin ja kein Nazi, aber…“ – Leute, die diese Argumentationsmuster ernsthaft benutzen, nenne ich Aber-Nazis.[/quote] Es sind kognitiv große Parallelen zu erkennen zur Verdrängung der Schuld aus der NS-Zeit, welche auch mit „Ja-Aber“ begann und zu einer Idealisierung führte. Es zeigt mir, dass die Aufarbeitung der NS-Zeit für einen Großteil der Deutschen gerade erst begonnen hat, weil die Kompensation in die Leistung und Aufbaumentalität durch wirtschaftliche Turbulenzen mehr und mehr bröckelt.

Die Frage nach der Wahrheit hinter der Idealisierung ist also ähnlich der viel zitierten Matrix Frage, ob wir lieber die rote oder die blaue Pille wählen.

[quote]Sehr gut, Du hast dich für die Rote Pille entschieden, somit werde ich Dir nun versuchen zu erklären was genau die Matrix ist, wie sie aufgebaut ist, wer sie aufgebaut hat, wie sie funktioniert und wie Du dich davor und dagegen schützen kannst bzw. wie du Dich aus ihr befreien kannst! Vieles von dem was Du gleich erfahren wirst mag erstmal unglaublich klingen, jedoch ist es leider die Wahrheit. Ich habe nicht gesagt, dass es schön wird, ich hab nur gesagt, dass es die Wahrheit ist.[/quote]

Fazit: Fluchtweisen in Anschuldigungen anderer, seien es nun Ausländer, scheinbare Verlierer, Arbeitslose, faule Griechen oder auch nur „harmlose“ Esoterik spielereien, sind  in Richtung blauer Pille zu verorten und führen zu einem gefühlten Stillstand im eigenen Entwicklungsprozess.

Sich den eigenen Gefühlen zu stellen, seinen Intuitionen nachzugehen, der schmerzhafte Dialog mit der Familie, die Integration des eigenen Schattens sind gute Wege um die Realität in einer viel umfassenderen und letztlich befreiteren (wenn auch konfliktreicheren) Sicht zu erfahren.

Betrachtung des Themas in der Gesamtschau

Persönlich denke ich, dass das globale Bewusstsein immer mehr zu einer Integration auffordert. Abgespaltene Teile sollen wieder versöhnt werden, unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander standhalten. Paradoxien müssen ausgehalten und gewürdigt werden. Ob im privaten Bereich oder im politischen, in welchem in der aktuellen Griechenlandkrise die neoliberale Schuldphilosophie auf die sozial berechtige Forderungen treffen. Wenn eine Seite sich zu einer erpresserischen Dominanz aufbläst, haben auf lange Sicht beide das Nachsehen. Das globale Bewusstsein, das alles miteinander zusammenhängt, ist in einem krisenhaften Selbst-Erkennungsprozess. Jede weitere Dissoziation und Schuldabweisung führt tiefer in die Krise.


Weiterführendes zum Thema:

Nebelkinder: Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte
Ich, Rabentochter
Schweigen tut weh: Eine deutsche Familiengeschichte
Der Fremde in uns
Radio Evolve- Podcast # 258 / 04.06.2015
Spiral Dynamics
Sascha Lobo – Kolumne Aber Nazis – http://www.spiegel.de/netzwelt/web/hetze-gegen-auslaender-im-internet-nennt-sie-terroristen-a-1045831.html

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