Achtsamkeit ist vielen Menschen ein Begriff. Meistens wird eine Verbindung zur Meditation und Yoga gezogen. Das Thema Achtsamkeit findet sich heute auf vielen Titelblättern von Esoterik- bis Managerzeitschriften oder Ratgebern. Es ist grundsätzlich einfach Achtsamkeit zu erlernen, sie wird in vielen Kontexten angewendet und konsumiert. In Schulen, in Gefängnissen, in Gesundheitseinrichtungen, in großen Profit-Konzernen wie Google und Co., bei einigen Sportarten usf.. John Kabat-Zinn, Begründer des Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) Programmes, ist der populäre amerikanische „Achtsamkeitspapst“. Er hat Achtsamkeit mit seinem Programm in die westliche Welt integriert. Achtsamkeit als Bestandteil der theravādischen Satipaṭṭhāna Methode, die gemeinhin unter dem Pāli-Begriff vipassāna bekannt ist, wurde bis dahin vor allem durch eingeweihte Lehrer vermittelt. Seit den 90er Jahren erfreut sich das MBSR-Programm in allen westlichen Ländern großer Beliebtheit. Die positiven Wirkungsweisen sind vielfach in wissenschaftlich Studien untersucht und veröffentlicht. Auch für Schattenarbeit ist Achtsamkeit essenziell. Der vorliegende Text möchte deshalb aufzeigen, wie wirkungsvoll Achtsamkeit angewendet werden kann, wenn sie vor dem Hintergrund eines breiteren Spektrums für tiefgreifende menschliche Entwicklung genutzt wird.
Was bedeutet Achtsamkeit und welchen Wert hat sie für die menschliche Entwicklung?
Die Grundlage von Achtsamkeit ist ein aufmerksames und entspanntes Beobachten dessen, was im Augenblick der jeweils gegenwärtigen Erfahrung vor sich geht. Dabei handelt es sich um eine nicht-wertende dafür annehmende Haltung aller inneren und äußeren Erfahrungen. Achtsamkeit hilft wahrzunehmen, was wir von Moment zu Moment fühlen, denken und tun, ganz ohne in Erinnerungen, Grübeleien oder Zukunftsvorstellungen zu verfallen.
Achtsamkeit wird oft mit Aufmerksamkeit gleichgestellt und meint, den Geist in klarer und lebendiger Form in Besitz zu nehmen. Ihrer Natur nach kann sie als Fokussierung und Weite des Bewusstseins betrachtet werden und beinhaltet die Fähigkeit sich von einem Objekt abzuwenden, um sich mit einem anderen zu beschäftigen. Achtsamkeit erfordert kritische Intelligenz, sie beobachtet ferner Dynamiken, d.h. welcher Impuls z.B. eine Emotion, ein Wunsch, ein Gedanke entsteht und welche Auswirkungen dieser auf Geist und Körper hat. Während Achtsamkeit beobachtet, prüft die Vernunft, ob dieser Geisteszustand zu Beunruhigung führt, ob er zerstörerisch, angstauslösend und leidvoll ist. Wenn schließlich ein unheilvoller Zustand auf die Sprache und das Verhalten wirkt, geht der Einfluss desselben ggf. über das Persönliche hinaus und wirkt sich ebenso auf andere und unsere Umgebung aus [1].
Achtsamkeitstraining verspricht die Entwicklung von Eigenschaften wie liebende Güte, Mitgefühl, Empathie, Freude und Gleichmut gepaart mit außergewöhnlich geistiger Stärke und Ausgeglichenheit. Sie führt zu einer besonderen Art des Wohlbefindens im gegenwärtigen Sein. Um diese Wirkung tatsächlich zu erreichen, bedarf es der Anwendung des Trainings und einer täglichen Praxis. Was der Praktizierende lernt ist, dass Achtsamkeit Raum sowie Autonomie zwischen Reiz und Reaktion schafft. Hinter der Reaktion verborgen liegen alle möglichen jemals verinnerlichten Verhaltensweisen verborgen, die zu unerwünschten Bewertungen, Empfindungen und Handlungen führen können. Der Praktizierende sieht aber zunächst nur die Bewertungen, die er vornimmt. Und dies schafft Raum für ein anderes Verhalten, er kann sich sozusagen neu entscheiden. Warum er diese oder jene Bewertung vornimmt, kann er mit alleine Achtsamkeit nicht präzise bestimmen. Achtsamkeit ist an sich nur reines Beobachten. Deshalb benötigt Achtsamkeit zum einen Schablonen, das sind z.B. Persönlichkeitstheorien wie die Transaktionsanalyse, wodurch die mit Achtsamkeit beobachteten Gefühle, Mechanismen und Dynamiken erhellt und plausibel werden. Zum anderen benötigt Achtsamkeit kritische Intelligenz, d.h. die Anwendung der Schablonen im Augenblick der Achtsamkeit. Die Schablonen helfen den Blick auf bestimmte Widerstände, Projektionen oder Introjektionen zu richten. Die kritische Intelligenz ist das gesunde Unterscheidungsvermögen mit dem Potential, die Erfahrungen auf Basis der Schablonen einzuordnen. Dadurch können wir genau beobachten, welche Art von Verhalten für das eigene Wohlbefinden und das von anderen förderlich ist und welches nicht. Das ist ein Zeichen von psychischer und spiritueller Reife.
Achtsamkeit ist eine uralte wertvolle Technik mit einer außerordentlichen Wirkung auf den menschlichen Geist. Wird sie im eben umschriebenen Kontext angewendet, entfaltet sie sich zu einem Werkzeug für die menschliche Entwicklung. Eine Entwicklung hin zu mehr Bewusstheit, zu mehr Tiefe, um mit jedem Schritt der Entwicklung mehr vom Kosmos umgreifen zu können.
Theorie zur Schattenarbeit
Schattenarbeit geht mit dem Begriff „Schatten“ auf den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung zurück und bezieht sich auf die Arbeit mit denjenigen Anteilen unseres Selbst, die dem Unbewussten angehören und aus seinem Schatten heraus unser Verhalten in bestimmten Situationen beeinflussen und steuern. Es kann sich dabei um verdrängtes Material (z.B. Gefühle, Bedürfnisse) oder auch um das „unterschwellig gewordene Psychische“ (Jung) handeln. Das Verdrängen und Vergessen ist eine menschliche Fähigkeit, die dann zum Einsatz kommt und sowohl hilfreich wie wichtig ist, wenn wir mit Situationen in unserem Umfeld emotional überfordert sind. Das Verdrängen bewahrt uns dabei für den Moment vor tiefgreifendem Schaden, den wir nehmen könnten.
Es ist erstaunlich, dass ich verleugnen kann. Ich kann Teile meines Selbst, meiner Ich-heit auf die andere Seite der Grenze meines Selbst schieben und versuchen zu verleugnen, dass diese Aspekte meines Selbst zu mir gehören, weil sie vielleicht so negativ oder so positiv sind, dass ich sie nicht akzeptieren kann. Sie wegschieben heißt jedoch nicht, sie wirklich loswerden. Sie verwandeln sich dadurch in schmerzliche, neurotische Symptome; Schatten eines entfremdeten Selbst, die wiederkehren und mich verfolgen, wenn ich in den Spiegel dessen schaue, was mich an der Welt da draußen am meisten stört und doch nichts weiter sehe als den Schatten meines verstoßenen Selbst. [2]
Die aus dem Bewusstsein ins Unbewusste verschobenen Anteile manifestieren sich als Verhaltensstrukturen, Denk- und Empfindungsweisen während der Phasen unseres Aufwachsens, d.h. bei der Entwicklung des Ich vom Embryo über die Säuglingsphase, die Kindheit, die Jugend sogar bis hin zum Erwachsenenalter. Was sich bei dieser Entwicklung des Ich immer wieder aktualisiert, ist die Persönlichkeitsstruktur. Die Persönlichkeit reagiert und agiert deshalb beeinflusst von unbewussten Anteilen seiner selbst. Diese Reaktionsweise ist in einigen Fällen unvorteilhaft und führt in der Folge häufig zu psychischen und körperlichen Komplikationen. Die abgespaltenen Anteile müssen dabei nicht nur negativ konnotiert sein, sondern können auch positive Qualitäten betreffen, vor denen wir uns ggf. fürchten, z.B. die berühmte Angst vor dem Erfolg oder die Furcht vor der Freiheit. Es kann deshalb schmerzhaft und irritierend sein, einen Schatten bei sich zu entdecken, ihm näher zu kommen. Jung schrieb:
[…] niemand vermag den Schatten ohne einen beträchtlichen Aufwand an moralischer Entschlossenheit zu realisieren. Handelt es sich bei dieser Realisierung doch darum, die dunklen Aspekte der Persönlichkeit als wirklich vorhanden anzuerkennen. Dieser Akt ist die unerlässliche Grundlage jeglicher Art von Selbsterkenntnis und begegnet darum in der Regel beträchtlichem Widerstand. [3]
Die Widerstände, die mit den Schatten einhergehen sind so stark und in der Persönlichkeit verzweigt, dass die Mechanismen der Verdrängung auch Menschen mit jahrelanger Meditationserfahrung nicht auffallen. Selbst beim Lesen von Inhalten der Schattenarbeit mag so mancher von sich sagen, „ich glaube nicht, dass ich so ein Problem habe, oder „dass mein Schatten so aussieht“. Oder aber, „ich verdränge nicht, denn ich meditiere ja regelmäßig und arbeite an mir“. Die Verdrängungsmuster sind so vielfältig und ihren Mechanismen auf die Spur zu kommen, ist das Anliegen der Schattenarbeit.
Für die Achtsamkeit ist es daher ratsam jede Form von Schönreden, Wegrationalisieren, Verleugnen, Verharmlosen und dergleichen gut im Auge zu behalten, denn dahinter verbirgt sich in vielen Fällen mehr als wir zunächst erahnen. Was das genau ist und wie schwer oder leicht uns der Umgang damit fällt, ist vollkommen individuell. Aus diesem Grund braucht es eine ganz bestimmte Methode innerer, achtsamer Arbeit. Solange Schatten ungesehen bleiben, beeinflussen sie mit ihrer verschleiernden Art auf ganz subtile Weise Entscheidungen und Verhalten einer Person. Es ist daher wichtig eine achtsame, nicht wertende und rein beobachtende Haltung einzunehmen.
Das Lieblingsgefühl – ein Schatten?
Gefühle umfassen Körperempfindungen, Emotionen und Gedanken. Von links nach rechts gelesen, ist es für den Menschen zunehmend schwierig, diese Gefühle eindeutig als solche wahrzunehmen und zu differenzieren. Körperempfindungen sind dabei am einfachsten zu gewahren, wohingegen Gedanken für die meisten Menschen gar nicht mehr als Gefühle gelten. In der Transaktionsanalyse wird von vier authentischen Grundgefühlen ausgegangen, worauf alle anderen Gefühle aufbauen [4]. Diese sind Angst, Ärger, Trauer und Freude. Abgesehen von natürlich-körperlichen Grundgefühlen wie Hunger, Müdigkeit, Völlegefühl, Ekel, Schläfrigkeit etc., sind es die genannten vier Gefühle, die den Menschen beschäftigen und bewegen. Diese Gefühle können funktional (s.o.) oder dysfunktional sein.
Dysfunktional sind Gefühle immer dann, wenn sie Unwohlsein verursachen, ohne im Dienst einer wirklichen Problemlösung zu stehen. Während funktionale Gefühle erleichternd wirken und allmählich abklingen, führen dysfunktionale Gefühle zu keiner echten Entlastung und tauchen daher immer wieder auf. [5]
Das sogenannte Lieblingsgefühl, in der Transaktionsanalyse auch Racketgefühl [6] oder Ersatzgefühl genannt, welches zu Racketverhalten führt, ist ein nicht produktives Gefühl. Das Lieblingsgefühl kommt zustande, da einem heranwachsenden Kind aufgrund von kulturellen, individuellen und familiären Bedingungen oftmals nicht alle Gefühlsäußerungen gestattet sind. Deshalb werden die nicht erlaubten doch ursprünglich authentischen Gefühle vom Kind in den Schatten verbannt, denn die Botschaft lautet z.B: du bist nicht ok, wenn du dich traurig, ängstlich … fühlst. Dem Kind bleiben drei Wege offen mit seinem authentischen Gefühl umzugehen:
- Es entscheidet, das Gefühl zu ignorieren, d.h. es macht sich diesbezüglich gefühllos
- Es entscheidet, ein Ersatzgefühl zu fühlen, das von seinem Umfeld erlaubt ist und unterstützt wird. Statt Trauer oder Ärger zu fühlen und zu zeigen, wird das Kind ggf. beginnen Freude oder Angst zu zeigen und entsprechend reagieren.
- Es entscheidet, ein unangemessenes Verhalten zu zeigen. Dabei wird das authentische Gefühl in sich hineingefressen und das Kind lächelt obwohl es sich gerade verletzt hat oder es beginnt bitterlich zu weinen obwohl vielleicht wütend sein oder fröhlich sein angemessen wäre.
Das Lieblingsgefühl ist durch Konditionierung in der Kindheit entstanden und zwar aus dem Bedürfnis des Kindes heraus geliebt und angenommen zu werden, also zunächst für die Eltern „ok“ zu sein. Schnell bemerken Kinder, wie sie die Zuneigung der Eltern erhalten und beginnen den entsprechenden Gefühlsausdruck und das dazugehörige Verhalten zu zeigen.
Die Grundeinstellung als Teil des Schattens
Kinder erhalten neben positiver Zuwendung eine Reihe einschränkender Grundbotschaften wie „Du bist deinen Eltern nicht wichtig“; „Fühle keinen Ärger (keine Trauer, keine Freude…!)“; Sei nicht kindisch“; „Vertraue niemanden“; „Werde nicht erwachsen.“ [7]. Wenn Kinder diese Botschaften zunächst nonverbal, dafür aber immer häufiger und nachdrücklicher bekommen, entwerfen sie daraus ihr Selbstbild und ziehen Schlussfolgerungen für ein bestimmtes Verhalten. Daraus bildet sich dann ihre Grundeinstellung [8]. Bei der Grundeinstellung geht es darum, welche Überzeugungen ein Mensch über sich selbst, andere Menschen und die Welt allgemein im Laufe seines Lebens gewonnen hat. Die Grundpositionen sind im Folgenden:
Bedeutung | Abkürzung | Symbol |
Mit mir hat es seine Richtigkeit und du bist mir so recht, wie du bist. | Ich bin OK, Du bist OK. | (+/+) |
Mit mir stimmt was nicht, du bist in Ordnung. | Ich bin nicht OK, Du bist OK. | (-/+) |
Ich bin in Ordnung, aber mit dir stimmt was nicht. | Ich bin OK, Du bist nicht OK. | (+/-) |
Mit mir stimmt etwas nicht und mit dir ist auch etwas nicht in Ordnung. | Ich bin nicht OK, Du bist nicht OK. | (-/-) |
Ich bin OK, Du bist OK
Eine Person mit dieser Grundeinstellung wird sich anderen Personen gegenüber grundsätzlich weder über- noch unterlegen fühlen. „Okay bedeutet nicht, dass alles gut und richtig ist, was diese Person sagt oder tut. Vielmehr gesteht sie sich und anderen Fehlern zu, ohne sich und andere dabei als Person abzuwerten.“ [9]
Ich bin OK, Du bist nicht Ok
Diese Position basiert auf einem „instabilen“ Selbstwert. Vor allem in Stresssituationen, wo der Selbstwert eine Rolle spielt, wertet diese Person andere eher ab als sich selbst Fehler einzugestehen oder anderen Personen Fehler zu erlauben. Sprechen sie Fehler anderer an, geht dies mit einer Abwertung der Person einher. Diese Position ist sehr verbreitet.
Ich bin nicht OK, Du bist OK
Auch hier ist der Selbstwert instabil, was in einer Art Opferposition zum Ausdruck kommt. Personen, die vorwiegend aus -/+ agieren fühlen sich oft unzulänglich, überfordert und nehmen übereilt Schuld auf sich. „Sie beginnen ihre Aussagen meist mit einer Selbstabwertung und überhöhen die Fähigkeiten anderer: Darf ich mal eine ganz dumme Frage stellen? Oder: Ich kann das bestimmt nicht so gut ausdrücken wie ihr.“ [10] Eric Berne nennt diese Position die depressive Position.
Ich bin nicht OK, Du bist nicht OK
Diese Position geht mit dem Gefühl tiefer Sinn- und Ziellosigkeit einher. Die Person sieht nichts Positives an sich oder anderen. Die Haltung wird häufig vorübergehend eingenommen, um sich von der Position -/+ zu entlasten. Gut, ich bin zwar nicht OK aber ich zeige den anderen, dass sie auch nicht OK sind (trotziges Kind).
Bei den meisten Menschen überwiegt eine Grundposition und erfahrungsgemäß gehen sie in schwierigen oder stressverschärfenden Situationen in eine dieser Positionen und agieren daraus, ohne dass es ihnen bewusst ist. Was hier geschieht wird von Jon Kabat-Zinn „Autopilot“ genannt. Der stattfindende Prozess lässt sich vereinfacht folgendermaßen darstellen: Wir nehmen einen Stimuli (sinnlich/emotional/kognitiv) wahr und wenden uns diesem zu. Blitzschnell bewerten wir seine Qualität, wofür drei Kategorien zur verfügung stehen: gut, schlecht und neutral. Die Bewertung setzen wir in Beziehung zu unserer Person, d.h. wir nehmen die Bewertung persönlich. Die qualitative Beurteilung von Stimuli ist im Wesentlichen bestimmt durch Konditionierungen aus bisherigen Erfahrungen, daraus resultierenden Assoziationen und Denkgewohnheiten. Auf diese Weise konstruieren wir unser Erkennen ohne uns dessen voll bewusst zu sein. Maturana und Valera verdeutlichten den Mechanismus des Erkennens mit dem prägnanten Satz „Jedes tun ist ein Erkennen und jedes Erkennen ist ein Tun“ [11]. Wir lassen den Stimulus nicht als das wirken, was er an sich im Hier und Jetzt ist, sondern belegen ihn mit einem Etikett. Je nach dem, wie diese Beurteilung ausfällt, versuchen wir an dem gegenwärtigen Augenblick festzuhalten oder ihm auszuweichen, auch das nach gewohnten Strategien und Mustern. „Der Autopilot bestimmt, wie wir mit uns selbst umgehen, gleichzeitig hilft er uns aber gerade nicht, gut mit uns umzugehen und er ist auch nicht gesundheitsförderlich […]. Normalerweise gibt es bei Ungeübten viele blinde Flecken für die zum Teil sehr subtilen Mechanismen, mit denen sie ihre wohlgeübten Autopiloten einsetzen.“ [12]. Der gewohnheitsmäßige Ablauf ist dieser: Es findet eine Reizverarbeitung statt, welche rasend schnell als stressauslösend bewertet wird, darauf folgt eine Reaktion. Zwischen Reiz und Reaktion ist kein bewusst wahrgenommener Raum. Durch das Üben von Achtsamkeit ist es jedoch möglich Raum zwischen Reiz und Reaktion zu schaffen und diesen auszubauen. Auf diese Weise können wir lernen, wie die Kaskade beginnt, die uns in unangenehme Gefühle und sogar ganze Dynamiken befördern.
Für die Schattenarbeit ist es bedeutsam, solche Mechanismen und insbesondere die persönliche Grundposition zu kennen, um im weiteren Schritt fähig zu sein, ein solches Verhalten mit Achtsamkeit bei sich selbst aufzudecken. Dabei wird es neben der Achtsamkeit entscheidend sein, sich Feedback von anderen zu holen und offen für das zu sein, was sie reflektieren. Schließlich sind Menschen bemüht, den Schatten im Schatten zu lassen, wofür das Ego zahlreiche Strategien entwickelt hat, um das zu ermöglichen.
Beispiel mit der 3-2-1 Schattenarbeit
Hans sucht die Rechnung von der Autoreparatur und fragt Frieda, ob sie die Rechnung gesehen hat. Er hat schon überall danach gesucht. Sie weiß nicht wo die Rechnung ist. Sie sitzt gerade an ihrer Studienarbeit und empfindet Druck, weil sie ihre Arbeit in drei Tagen abgeben muss. Sie signalisiert, dass sie nicht gestört werden will. Hans sucht weiter die Rechnung und fragt Frieda, ob sie ihn kurz beim Suchen helfen will. Frieda reagiert wütend. Daraus entstehet ein Streit und zum Schluss sagt sie zu Hans: wieder mal kann ich mich wegen dir nicht mehr konzentrieren. Wie soll ich denn jetzt die Arbeit schreiben, ich habe kaum noch Zeit, das weißt du doch. Jetzt ist mein ganzer Tag hin, denn mit so einer Stimmung kann ich nicht an meiner Arbeit sitzen. Frieda rennt aus dem Haus, um mit sich allein zu sein.
Frieda hat vor einigen Wochen an einem Kurs teilgenommen, in dem sie Achtsamkeit und Schattenarbeit gelernt hat. Beim Spazieren gehen wird ihr einiges bewusst was in ihr passiert ist. Sie betrachtet die Situation im Rückblick und empfindet ihre Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken nach. Frieda wendet den 3-2-1 Schattenprozess [13] an, um herauszufinden, warum sie so empfunden und reagiert hat.
3 – sich damit konfrontieren
Hans hat mich wütend gemacht. Mit seinem Suchen hat er mich bei meiner Arbeit gestört und mich unheimlich verärgert.
2- damit sprechen
Frida: Hans, warum hast du mich wütend gemacht?
Hans: Ich habe dich nicht wütend gemacht. Ich habe dir nur eine Frage gestellt.
Frieda: Warum bin ich wütend?
Hans: Weil du dir Druck machst, wegen deiner Studienarbeit.
Frieda: Deswegen bin ich aber doch nicht wütend.
Hans: Du fühlst dich mit dem Gefühl hinter dem Druck nicht OK.
Frieda: Was ist das für ein Gefühl hinter dem Druck?
Hans: Du hast Angst. Angst zu versagen, Angst etwas nicht zu schaffen, Angst nicht gut genug zu sein, Angst abgelehnt zu werden.
Frieda: Aber wie kann ich dann wütend sein, wenn ich eigentlich Angst empfinde? Und warum ist mir die Angst nicht bewusst?
Hans: Vielleicht weil Dir nicht erlaubt ist, Angst zu empfinden? Du fühlst Dich mit der Angst nicht OK und zeigst stattdessen Wut.
1 – es sein
Frieda: Ich empfinde Angst. Und damit fühle ich mich nicht OK. Der Ausdruck von Ärger bringt mich in solchen Situationen nie weiter und hilft mir nicht, das zu erreichen was ich möchte.
Frieda hat zuerst die Grundposition angenommen „Ich bin OK/du bist nicht OK“. Denn zuerst hat ihrer Ansicht nach Hans sie wütend gemacht. Hans war in dem Moment „nicht OK“, sie schon. Hinter der Haltung „Ich bin OK / du bist nicht OK“ steckt ein „ich bin nicht OK-Gefühl, das sie veranlasst hat den Grund für ihre ärgerlichen Gefühle bei Hans zu suchen. Das hat sie unbewusst getan, damit sie sich OK fühlt, weil sie das nich-OK-Gefühl loswerden wollte. Es ist zu erinnern, das im Autopilot keinerlei Raum für Bewusstheit ist, denn diese Kaskade läuft sehr schnell ab. Fridas Wut war dysfunktional, weil sie damit nicht ihr Problem lösen konnte. Die Wut war nur Fridas Antwort auf ihren eigenen inneren Zustand Angst zu empfinden und somit ein Ersatzgefühl. Ersatzgefühle werden so intensiv empfunden wie authentische Gefühle auch, mit dem Unterschied, dass sie für eine gegebene Situation ohne Funktion sind. Ersatzgefühle kommen deshalb immer wieder hoch, weil sie eine Problematik nicht lösen, sondern vielmehr auf etwas hinter ihrem Schatten liegendes hinweisen, woraus sie ihre Energie beziehen. Das zu verarbeitende Gefühl (hier Angst) wird eben weil es nicht gesehen wird nicht bearbeitet und so poppt das Ersatzgefühl (hier Wut/Ärger) immer wieder auf.
Mit der Achtsamkeit den Schatten integrieren
Frida kann auf unterschiedliche Art und Weise Achtsamkeit anwenden. Da sie einen Schatten hinsichtlich ihrer Angst hat, wird sie mit bloßer Achtsamkeit den Schatten nicht integrieren können. Deshalb ist es wichtig, neben Achtsamkeit sich mit Entwicklungstheorien zu befassen. Dadurch kann das reine Beobachten durch eine Schablone schauen und mit einem ungetrübten Blick die Situation analysieren. Weil Achtsamkeitstraining wie Schattenarbeit eine Prozessarbeit ist, wird es seine Zeit brauchen bis Reaktionsmuster, noch bevor sie ausgesendet wurden, angehalten werden können, um den nötigen Raum für neue Entscheidungen zu ermöglichen. Durch die trainierte Achtsamkeit ist es viel leichter zu beobachten, was in der Situation geschehen ist. Sie beobachtet das Bewerten und Projizieren/Introjizieren auch in schwierigen Situationen. Damit kann im ersten Schritt die innere Abwehr angehalten werden und (Mit-)Verantwortung getragen werden.
Die Achtsamkeit hilft, indem sie fühlt, erspürt was jetzt hier in diesem Augenblick gerade da ist. Sie nimmt unvoreingenommen eine Tönung der Gefühle oder der Stimmung wahr, das ist die dahinter liegende Grundposition (OK/nicht OK). Die Person bewertet sich und das Gefühl entweder als angenehm, unangenehm oder neutral. Frieda hat sich „nicht OK“ gefühlt und die Angst war für sie auch „nicht OK“, weil sie irgendwann einmal in ihrem Leben gelernt hat, wenn sie dieses Gefühl empfindet, ist sie „nicht OK“.
In schwierigen und stress verschärfenden Situationen in dem die Angst hintergründig hochkommt, reagiert sie mit dem Autopiloten aus dem verdrängten Gefühl und empfindet dabei ein Ersatzgefühl für die Angst. Und aus dem Ersatzgefühl denkt und handelt sie. Das ist der Schatten von Frieda. Was Frieda jetzt immer wieder tun kann ist, in schwierigen Situationen mit Achtsamkeit ihre Körperempfindung, Gedanken, Gefühle, Widerstände und Grundposition kontinuierlich beobachten. Schließlich wird sie nach und nach die Angst integrieren und sich neu entscheiden, dass es ihre Angst ist und sie die Angst spüren darf. Dass sie OK ist, wenn sie so empfindet. Die Angst ist OK und sie ist auch mit ihr OK.
Quellen :
1 – Wallace Alan. B: Achtsamkeit: mehr als eine Methode zur Stressbewältigung. S. 26. In Zimmermann M./Spitz C./ Schmidt S. (Hrsg): Achtsamkeit. 2013, 2. Auflg.
2 – Wilber, K. „Integrale Spirituelität“, Kösel: München, 2. Auflg. , S. 169
3 – G. Jung, Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. Ostfildern: Patmos, 3. Auflg. , S. 17
4 – Gührs, M., Nowak, C., Ein Leitfaden für Beratung, Unterricht und Mitarbeiterführung mit Konzepten der Transaktionsanalyse. Meezen: Limmer, 2. Auflg. , S. 127
5 – Ebd.
6 -„Berne hat diesen Begriff gewählt, um zum Ausdruck zu bringen, dass Rackets manipulativen Charakter besitzen […] Rackets sind nicht auf eine konstruktive Lösung gerichtet, sondern werden unbewusst dazu benutzt, andere Menschen bei eigener Passivität zum Handeln zu veranlassen.“ Ebd. S. 131
7 – Gührs, M., Nowak, C., Ein Leitfaden für Beratung, Unterricht und Mitarbeiterführung mit Konzepten der Transaktionsanalyse. Meezen: Limmer, 2. Auflg. , S. 36
8 – Ebd.
9 – Ebd. S. 37
10 – Ebd. S. 38
11 – Maturana, H., Valera, F., „Der Baum der Erkenntnis“, Frankfurt am Main: Fischer, 2. Auflg. , S. 31
12 – Aßmann, M. Stressbewältigung durch Achtsameikeit. Eine Einführung. (59-70) in: Achtsamkeit. Ein buddhistisches Konzept erobert die Wissenschaft. Zimmermann, M. et. al. (Hrsg). Bern: Hans Hubner, 2. Auflg. , S. 63. ff.
13 – 3-2-1 Schattenarbeit aus: Wilber, K., Pattten, T., Leonard, A., Morelli, M., Integrale Lebenspraxis. Berlin: Kösel, 2. Auflg. , S. 66 ff.
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