Truckers-for-freedom und das dividuelle Korrektiv der Postmoderne. Ein Kommentar

Wow, Kanada befindet sich wirklich an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Wie auch immer man dazu steht, eines dürfte klar sein – es handelt sich hier weder um eine „kleine Minderheit“, noch im Kern um „radikale“ oder „Rassisten“. Diese Bewegung besteht ähnlich aus der Mitte der Gesellschaft wie andere Graswurzelbewegungen der letzten Jahre, man denke nur an die Gelbwesten. Das Narrativ der Leitmedien ist daher sehr fragwürdig, insbesondere wenn man die Bewegung als „rechts“ framed. Es zeigt sich eine fatale Fehlanalyse, der auch einige Integrale immer noch anhängen, welche nicht mehr zeitgemäß ist.

Truckers for Freedom – eine ROTBLAUE Bewegung?

Wer noch nicht im Bilde ist, was in Kanada gerade geschieht der mag sich diese Video ansehen.

Es wird deutlich, wie unvereinbar das Narrativ der Regierung mit einem Teil der Bevölkerung ist. Wie groß dieser Teil ist, darüber wird wie immer gestritten. Während die Macher des Films „Truckers for freedom“ von Umfragen mit über 25000 Teilnehmer und 80% Zustimmung für die Trucker sprechen, liegen in offiziellen Umfragen die Zustimmungswerte bei „nur“ 46% [1]. In jedem Fall handelt es sich weder um eine kleine Minderheit, noch um Radikale am rechten Rand.

Wir sehen hier offenkundig einen Streit um die Deutungshoheit wer die Zukunft wie gestalten wird. Das Wort „rechts“ suggeriert Menschen, die sich gegen den Wandel sträuben und die in alten Narrativen des Nationalchauvinismus verharren. Dies ist in Anbetracht der Entwicklung der Menschheit und der Probleme überholt und fürs Protokoll sei erwähnt : Natürlich gibt es solche Leute, aber es sind bei weitem nicht repräsentativ für die Bewegungen der jüngsten Zeit. Wir sehen vielmehr, dass in etwa die Hälfte der Bürgerschaft westlicher Länder nicht mit den Leitlinien der Postmoderne in Konflikt stehen, sondern mit…ja womit eigentlich? Das Impfen scheint es jedenfalls nicht zu sein, denn über 90% der Trucker in Kanada sind geimpft. Um das klar zu umreißen muss ich kurz auf die Wandlungen innerhalb der Spirale eingehen.

Die Spirale in Wandlung

In etwa um 2016 wurde vermehrt ein Umbau der Gesellschaft vorgenommen, welcher vor allem aus integraler Perspektive spannend zu beobachten ist. So wurde die Gesellschaft innerhalb ihres normativ-moralischen Wertegerüsts auf eine Weise umgebaut, die in erster Linie auf Gruppendynamiken wie Ein- und Ausgrenzung beruhen. Als zentrale Instanz der Deutungshoheit über diese Wertelinien wurde die Wissenschaft gekrönt und bisweilen missbraucht. Die aus dem postmodern-grünem Bewusstsein geronnenen Artefakte wurden vermehrt in den Alltagscode des Denkens, Sprechens und Fühlens integriert, sodass wir heute in einer systemischen Konstellation stehen, in der vor allem junge Generationen mit einem normativen Wertegerüst aufwachsen, welches einen deutlichen grünen Anstrich hat. Es macht daher keinen Sinn mehr heute noch von einem avantgardistischen neuen Bewusstsein zu sprechen, von einer hohen Reflexions- und Komplexitätsfähigkeit sehen, wenn sich Menschen mit „grünen“ Gedanken identifizieren. In vielen Teilen ist nicht einmal der Ausbruch aus den Normen und Werten der Elterngeneration nötig. Das grüne Denken zu Pionierzeiten hatte dagegen ganz andere Attribute, es war Obrigkeit und Normen gegenüber in Opposition, es war neuem gegenüber aufgeschlossen, oft gut gebildet, lässig und explorativ. Was wir heute unter Grün verstehen hat also abgesehen von inhaltlichen Forderungen nur noch wenig mit dem Grün vergangener Tage zu tun, insbesondere wenn wir die Protagonisten in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung untersuchen – es muss konstatiert werden, dass sich ehemals grüner Inhalt und grüne Geistesaktivität nicht mehr decken.

Memetischer Kontinentaldrift

Ken Wilber, Clare Graves und viele weiter haben ihre Analysen zunächst anhand der gesellschaftlichen Situation der Nachkriegsepoche illustriert. Mittlerweile kam es zu einem langsamen, aber stetitgen Kontinentaldrift der memetischen Landschaften und in Folge dessen kommt es zu einer Begriffsverwirrung. Sprechen wir daher im Folgenden von grün (kleingeschrieben) als Konglomerat der konkreten Forderungen und Denkrahmen die wir heutzutage normativ Vorfinden (und sich beispielsweise in der Partei der Grünen gut wiederfinden) und von GRÜN (großgeschrieben) als Spiral Dyanmics Entwicklungsstufe, einer pluralistischen Geistesaktivität, welche die abstrakten Kriterien der SD-Grün Umschreibung erfüllt. Zum Zeitpunkt der 70er und 80er Jahre als Wilber seine Grundlagen legte stimmten Inhalt & Geistesaktivität von Grün noch einigermaßen überein. Heutzutage muss man das klar differenzieren : Joe Rogan wäre in diesem Sinne GRÜN und ist in der Lage über grün sinnvoll multiperspektivisch zu diskutieren, sich wenn nötig zu distanzieren – er hat die normative grün-BLAUE Perspektiveoffenkundig integriert. Wobei es natürlich immer schwierig ist jemanden auf eine Stufe zu verorten, aber der Didaktik wegen siehe man es mir nach. Jemand der hingegen grün einseitig als letzte Wahrheit verkündet gleicht eher dem BLAUEN Mem. Diese Verschiebung kann man sich gut anhand der Sinus Milieus vergegenwärtigen :

Man könnte aus diesem Bild von 2016 die jeweiligen Milieus gut mit SD-Stufen in Verbindung bringen. Der natürliche Vorgang dabei ist, dass aus den zunächst abstrakten Umschreibungen eines Mems nun eine konkrete auf die Gegenwart bezogene Vorstellung geworden ist, wie sich dieses Mem in natura darstellt. Doch die Milieus wandeln sich von Jahr zu Jahr, es kommen neue Hinzu und Alte vergehen. Die grünen Inhalte sind mittlerweile allen Milieus vertraut und alle haben auf ihre Art eine Haltung dazu entwickelt. Es wäre irrsinnig zu behaupten, dass manche diese Inhalte noch nicht verstehen, da sie mittlerweile so populär und komprimiert sind, dass sie jeden erreicht haben. Ebenso wäre es zu kurz gegriffen davon auszugehen, dass viele gegen die Leitlinien (Umweltschutz und transnationale Zusammenarbeit) große Widerstände aufbauen. Natürlich gibt es in der Argumentationstiefe und Komplexität nach wie vor gewaltige Differenzen (SD-Stufen), doch bewegen wir alle uns längst in dem grünen Paradigma des planetaren Zusammenwachsens der Menschheit und der gemeinschaftlichen Fürsorge für unseren Planeten. Es ist also vollkommen falsch die Annahme zu treffen, dass nur eine Minderheit auf einem hohen Denk- & Abstraktionsniveau (GRÜN) die Probleme unserer Zeit (grün) adäquat erfasst, wie es im Selbstverständnis vieler Politiker anzutreffen ist. Die Positionierung dieser Progressiven gegen die vermeintlich populistische Masse an Regressiven ist folglich ebenso fatal wie unsinnig und erzeugt viele Folgeprobleme – sie stammt aus der Zeit der 70er und 80er! Weiter ist die daraus gefolgerte Haltung der Belehrung und die schizophrene Spannung zwischen öffentlich-geäußerter Position und tatsächlicher Strategie das Pulverfass dieser Tage und der Grund, warum sich innerhalb der Gesellschaft eine Polarisierung auftut.

Die postmoderne Weltsituation – die dividuelle Masse als Korrektiv

Ken Wilber sprach häufig davon, dass im Grunde ca. 40% der Bevölkerung als „Nazis“ gelten, da sie sich noch auf BLAU befinden. Unter diesem Lichte betrachtet erscheint die Dynamik dieser Tage auch weit plausibler : Wenn man sich klar macht, dass grün mittlerweile auf BLAU heruntergebrochen wurde, so wird auch verständlich. warum BLAU nun zunehmend gefallen an diesem Ideengebilde findet. Es wird verständlich, warum wir mit zunahme der grünen Forderungen mittlerweile parallel einen Abbau aus post-BLAUEN Errungenschaften erleben : Bürgerliche Freiheit, Pluralismus, Integralismus. Für all das hat BLAU wenig Verständnis. Es ist so offenkundig, dass ich mich ernsthaft wundere, warum so einige Integrale die Augen davor verschließen.

Was von Seiten der Gegenbewegung oft als „Volk“ vs. „Globalists“ bezeichnet wird ist eine sehr unglücklich gewählte Umschreibung, da sie das Narrativ der Leitmedien zu unrecht befeuert. Vielmehr ist das, was die Menschen unter „Volk“ verstehen längst bereinigt von dem Nationalchauvinismus vergangener Tage. Es gibt eine große Solidarität und gefühlte Ebenbürtigkeit unter den Anhängern. Die Bruchlinie der Solidarität ist geistiger Natur. Die Anti-Corona Demonstrationen finden Zulauf und laden offen alle Nationen ein. Die Anhänger der Bewegung erfreuen sich der Fortschritte anderer Länder und tauschen sich längst transnational aus. Was hier also mit Volk gemeint ist sind vielmehr die bürgerlichen Tugenden und Errungenschaften, das integrieren regionaler Besonderheiten und Individualität – es richtet sich gegen die Gleichmachung der Woke Kultur, gegen die Belehrung von oben. Alle erfolgreichen Graswurzelbewegungen sind längst transnational, non-rassistisch und an der umweltgerechten Gestaltung der Zukunft interessiert. Die Coronapolitik fungierte für den Bruch der Lager als Brandbeschleuniger, denn an ihr kristallisierte sich das fatale Missverhältnis zwischen Politik und Bürgerschaft heraus. Viele Progressive sehen in diesem Kurs eine Notwendigkeit auf lange Sicht, da das Klimaproblem nur mittels Bevormundung zu lösen sei. Doch die westliche Gesellschaft hatte sich längst eingegrooved auf die vielfältigen Probleme : Repair-Cafés, Vegetarismus, PV am Eigenheim und vieles mehr deuteten in eine klare Richtung. Vieles ließe sich auch über den Markt regeln, beispielsweise höhere Sprit-, Fleisch- & Flugpreise. Nicht alles lässt sich über den Markt regeln – ja . Doch eine Bevormundungspolitik im Stile der Coronapolitik wäre nicht nur memetisch eine Regression, sondern einer westlichen Gesellschaft unwürdig. Der aktuelle Trend zeigt, dass die Politiker sich immer noch in dem Weltbilder der 70er und 80er bewegen und er würde den sozialen Frieden in Europa massiv gefährden.

Da sich die Gestalter aus der Politik immer stärker koordinieren und immer einheitlicher Auftreten formiert sich parallel und zwangsläufig dazu eine Gegenbewegung, welche das nun fehlende Korrektiv darstellt. Die dividuelle Masse, welche weder einer Führungsperson folgt, noch eine einzelne klar auszumachende Forderung hat (die Gelbwesten starteten beispielsweise als Protest gegen zu Hohe Treibstoffpreise, sind dann aber in ihrem Forderungskatalog vielfältiger geworden), ist bereits Teil des grünen Systems und der internationalen Zusammenarbeit. Die internationale Bürgerschaft ist die Opposition, welche auf politischem Parkett keinen Ausdruck mehr findet. Sie ist das Korrektiv gegen Blasenbildungen in der Politik. Sie ist der verstoßene Teil der postmodernen Weltgemeinschaft, welcher in seinen Wurzeln eine Reaktion auf die Fehlanalyse, Unterschätzung und Entmündigung der Menschen darstellt. Ihr Wertegerüst ist weder radikal noch egozentrisch, – man findet unter der Mehrzahl der Anhänger friedliche, solidarische, umweltfreundliche und umsichtige Einstellungen.

Fazit

Die dividuelle Masse formt die Opposition in der neuen grünen politischen Konstellation westlicher Länder. Die Medien scheitern ebenso wie einige Integrale aufgrund einer falschen Analyse, welche grünes Denken aus ehemals GRÜN geronnenen Geistesinhalten verwechselt und sich daher als Avant-Garde missversteht. Die Beschreibungen der Medien der Gegenwart scheitern  zwangsläufig und erzeugen ungewollt gerade jenes Korrektiv, welchem sie eigentlich vorbeugen möchten.


Quellen

[1] https://globalnews.ca/news/8610727/ipsos-poll-trucker-convoy-support-ottawa-canada/