Die neue blaue Wissenschaftsgesellschaft

Wo auch immer man steht in der aktuellen Covid Debatte : Wir sehen, dass die Debatte zunehmend in zwei toxische Lager abdriftet. Der Debattenraum wird dabei immer stärker durch autoritäre In-outgrouping Argumenationsmuster gefärbt, was der blauen Welle im Spiral Dynamics entspricht.

Kommentar

Zuletzt musste ich als Reaktion auf meine Kritik zur aktuellen pandemischen Lage lesen, dass wir über die Phase „Wer hat die bessere Statistik“ (was der Autor als Orange einstufte) hinaus sind und globale Perspektiven einnehmen sollten. Laut seiner Ansicht ist also das schauen auf die Statistik und die Sorge um die gegenwärtig verfassungswidrige Rechtslage [4] eine verkürzte Perspektive, welche den gegenwärtigen globalen Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist. In seiner Argumentation ist – so vermute ich – die Widersprüchlichkeit von Expertenaussagen Ausdruck einer pluralen Meinungslandschaft. Dem ist natürlich grundsätzlich so, doch wir erkennen aktuell wenig von dem, was eine gesunde plurale Meinungslandschaft ausmacht. Experten wie Wodarg, Bhakdi und Co werden zensiert und aus den öffentlichen Medien quasi ausgeschlossen. Es findet eine Vorverurteilung von Andersdenkenden mit validen Meinungen als „Covidioten“ statt und Demonstrationen mit kritischen Meinungen werden verboten. Von einem Austausch auf Augenhöhe, einer Vielfalt an Perspektiven mit methodisch gut ausgearbeiteten wissenschaftlichem Background ist zumindest beim Thema Corona in der etablierten Medienlandschaft wenig zu sehen.

Die neue blaue Linie

Ich schrieb schon 2016, dass wir einen Shift innerhalb von Blau beobachten – die neuen Bruchlinien der Gesellschaft verlaufen entlang einer vermeintlichen Wissenschaftsgesellschaft und z.T. zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Das orangene Grundmuster, welches sich mit der bürgerlichen Revolution 1848 Bahn brach, lässt sich am Besten unter dem Kant’schen Motto „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ zusammenfassen. Die Dogmen wurden aufgebrochen und durch eigenes Denken sowie durch neue wissenschaftliche Methoden der Verfizierung abgelöst.

Die heutige Komplexität und Infortmationsflut führt in eine neue gesamtgesellschaftlich-evolutionäre Drucksituation, in der diese orangenen Grundmuster immer zeit- und ressourcenaufwändiger werden. Wir vertrauen deshalb immer öfter auf Experten und rutschen dabei schnell in autoritäre Glaubensmuster. Die „neue blaue Linie“ nimmt Expertenurteile als Maßsstab, welche in der heutigen komplexen Welt Halt geben. Doch der selektive Prozess im Hintergrund nachdem teilweise Experten mit jahrzentelanger Erfahrung von heute auf morgen diffamiert werden zeigt mir, dass hier etwas seltsames vor sich geht.

Sind die Grundlagen noch gegeben um dieses Vertrauen auf für uns selektierte Wissenschaftler zu rechtfertigen, oder ist das Auswahlverfahren selbst marode geworden?

Grundrechtseinschränkungen auf unbestimmte Zeit und Zensurpraktiken weisen jedenfalls daraufhin, dass es hier möglicherweise eher um einen Umbau innerhalb von blau geht, als um eine Debatte um die besten Argumente aus verschiedenen Perspektiven. Und nicht zufällig erscheint die Grundrechtsbewegung Querdenken, welche für die „gewohnte rechtsstaatliche Ordnung“ eintritt als einzige nenenswerte Opposition der aktuellen Lage.

Was also ist diese „neue blaue Wissenschaftsgesellschaft“ ? Sie zeichnet sich durch folgende Charateristika aus :

  • Betonung der Komplexität bei gleichzeitiger Berufung auf Wissenschaftsexperten zur eigenen Komplexitätsreduktion
  • Prinzip der Kontaktschuld : Ausgrenzung Andersdenkender (In-Outgrouping Prozesse) aufgrund von (vermeintlicher oder realer) Zugehörigkeit zu einer Gruppe
  • Urteile der Wissenschaftler werden weniger rational verteidigt, als eher moralisch und emotional
  • Haltung ist wichtiger als Argumentation
  • Starke Selektion von Wissenschaftlern bishin zur Diffamierung von Wissenschaftlern
  • Zunehmende Zensurpraktiken
  • Zunehmend eingeengter Meinungskorridor : Abnahme der Vielfalt von politischen Lagern und salonfähigen Denkrichtungen

Es ist also eine evolutionäre Anpassung an die gegenwärtige Lage mittels blauer Methoden. Über die Richtung der blauen Wissenschaftsgesellschaft lässt sich streiten, – ob sie selbst eine Regression ist oder eine Phase der notwendigen Transformation darstellt sei daher dem Leser überlassen.

 

Gegenwärtige Lage der Wissenschaft und Gatekeeper

Die Wissenschaft ist politisiert wie nie zuvor. Leider ist sie auch korrumpierter denn je. Fünf Sechstel der wissenschaftlichen Arbeiten dienen der Gewinnmaximierung, sind weisungsgebunden und demnach nicht mehr frei [1]. Das Reputations- und Publikationssystem ist unterwandert und kein Garant mehr für sorgfältige Peer-Reviews [2]. Greife ich also meine Frage von vorher nochmal auf, ob wir diesem System uneingeschränkt vertrauen können, so sind hier zumindest große Risse zu verzeichnen.

In dieser Lage kommt den Gatekeepern, beispielsweise Organisationen wie Correctiv, besondere Bedeutung zu um die Informationen für die Rezipienten gewissenhaft einzuordnen. Doch gerade diese Versagen immer wieder in ihren Einschätzungen und bestärken durch die Verkürzung auf „Richtig“ und „Falsch“ noch rot-blaue Muster. Diese Gatekeeper sind in ihrer ganzen Struktur einem pluralen Diskurs nicht angemessen. Kommt ihnen in einer Gesellschaft eine so zentrale Bedeutung zu wie dieser Tage birgt das ein großes Regressionspotenzial. Der Herausgeber von Tichy, der erfolgreich gegen ein Fehlurteil von Correctiv klagte, äußerte sich dazu in der FAZ wie folgt :

„Was Correctiv auf Facebook betreibt, ist ein als Faktencheck getarnter Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit. Das ganze System dieser Grundrechtseingriffe, die institutionalisierte Rechthaberei, die unkontrollierte Anmaßung über Wahr oder Unwahr zu befinden, stehen zur Disposition, da diese jetzt auch wettbewerbsrechtlich angegriffen werden können.“ Roland Tichy, früher Chefredakteur von „Wirtschaftswoche“ und „Impulse“, sagte, das Urteil sei „wegweisend“: „Es ist nicht Aufgabe von so genannten Faktencheckern darüber zu entscheiden, ob Meinungen und Einschätzungen anderer Journalisten richtig sind“.

Auch in der Covid-Krise sehen wir wenig Pluralität, wenig wissenschaftliche Debatte. Vielmehr hat sich der gesamte Bundestag in der Beurteilung der Lage auf die Einschätzung eines einzigen Virologen gestützt und alle anderen Meinungen von Experten auf dem Bereich der Epidemiologie ausgeblendet [3]. Das ist weder aufgeklärt noch pluralistisch – es ist autoritär in seinen Grundstrukturen.

Machen wir uns also nichts vor und tun so, als wäre das was wir dieser Tage beobachten ein evolutionäres Glanzstück. Es wäre aufrichtiger darüber zu diskutieren, ob wir mit den gegenwärtigen Strukturen die Probleme der Zukunft wie beispielsweise den Umweltschutz noch bewerkstelligen können und ob eine freiheitliche Demokratie wirtschaftlich noch mit den großen Playern wie z.B. China mithalten kann. Das Aufgeben der freiheitlichen Demokratie muss keine Regression sein – was es vor allem braucht ist ein aufrichtiger gesamtgesellschaftlicher Dialog, wie wir künftig unser Zusammenleben gestalten wollen. Ein Szenario wie Covid dafür zu instrumentalisieren ohne die Bevölkerung hinereichend an der langfristigen Strategie zu beteiligen ist nicht nur unethisch, sondern birgt auch sozialpolitisch enormen Sprengstoff.

Metaperspektiven von Graves und Gebser

Ich schrieb zuvor, dass wir durch die Komplexität der Welt in einer neuen Drucksituation befinden. Über die Dynamiken in einer solchen Lage haben sich viele integrale Autoren geäußert. Gebser schrieb dazu :

Angst entsteht immer dort — sei es nun im Einzel-, im Sippen-, im Völker- oder im Menschheitsleben , wo aus der Erschöpfung einer Haltung die Ausweglosigkeit aus dieser Haltung bewußt Oder unbewußt evident wird, weil diese Ausweglosigkeit nun nicht mehr den Machtcharakter, sondern den Ohnmachtcharakter der betreffenden erschöpften, also kraftlos gewordenen Haltung spiegelt. Angst ist stets das erste Anzeichen dafür, dass eine Mutation in ihren Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten zum Ende gekommen ist, so dass sich neue Kräfte stauen, die, da sie sich stauen, Beengung hervorrufen. lm Kulminationspunkt der Angst werden diese Kräfte sich jeweils befreien; das aber ist dann stets gleichbedeutend mit einer neuen Mutation. So gesehen ist die Angst die große Gebärerin.

Clare Graves geht davon aus, dass sich Phasen der relativen Stabilität mit Phasen der Destabilisierung/Verunsicherung abwechseln. Er formuliert 5 typische Phasen bei der Transformation von einer Entwicklungsebene auf die nächste:
  • Alpha: stabil und im Gleichgewicht
  • Beta: Zeit der Unsicherheit und des Infragestellens
  • Gamma: Zeit der Wut, Angst und Verwirrung
  • Delta: Inspirierte Begeisterung
  • Alpha neu: Stabilität im nächsten Wertesystem (d. h. auf der neuen Entwicklungsebene)

Diese beiden Metaperspektiven geben Grund zur Hoffnung, dass wir uns in einer Aufwärtsbewegung befinden, in der wir zwischen Beta-und Gamma stehen.

Chancen und Gefahren

Die große Chance der gegenwärtigen Situation ist der Diskurs untereinander, denn dort wo die etablierten Medien und Faktenchecker versagen, ergeben sich neue Räume der individuellen Eigenverantwortung in denen das aufrichtige Prüfen von Quellen, das empathische Zuhören und das logische Schlussfolgern und Argumentieren zu einer neuen Blüte gelangen könnten. Die Demokratie braucht ein Update und das fängt bei der Mündigkeit des Einzelnen an und dem Willen sich aktiv einzubringen. Je mehr wir unsere Verantwortung abgeben an Experten, desto eher befördern wir eine Gesellschaft in der über uns bestimmt wird. Nutzen wir vielmehr die Expertenurteile unterschiedlichster Disziplinen um uns ein eigenes Urteil zu bilden. Für solch eine Debatte ist es zunächst einmal nötig von einem Closed Mindset in ein Open Mindset zu gelangen. Die folgende Grafik kann als Inspiration oder Gesprächsgrundlage dienen, ebenso wie das darunter angehängte Video. Machen wir das Beste aus dieser spannenden Zeit.

 

Anmerkung : Dieser Beitrag ist unter anderem inspiriert von Diskussionen im integralen Freundeskreis. Über diesen Link können Sie direkt daran teilnehmen. Dies ist ein Kommentar und ist daher nicht repräsentativ für die Teilnehmer des integralen Freundeskreises.

 

 

 

 

[1] https://www.heise.de/tp/features/Gekaufte-Wissenschaft-4876172.html?fbclid=IwAR0v_hJKs80QtJE7kmXzjQi5H-SJ9KL1hOdNmeMBuG04FIdvnaeMKS71RLQ

[2] https://www.heise.de/tp/features/Das-wissenschaftliche-Publikations-und-Reputationssystem-ist-gehackt-4701388.html

[3] Beitrag von David Claudio Sieber : https://one-mind.net/fakten-fazit-zur-querdenken-demo-am-29-08-2020-in-berlin/

[4] Auszug aus dem Gesundheitsausschuss 9.9.2020 zur Frage der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit : https://www.youtube.com/watch?v=vejxht8BI68&feature=youtu.be&t=552&fbclid=IwAR2eif1Vxu3WEFjszI-hQnGhj2f0hBIRHWyPstFsOCzhbd8LtL2XxtTEBVw