„Die Postmoderne ist durch den Transgress ins Unbekannte charakterisiert.“ Sätze wie diese machen diese philosophische Schrift „Narratives Bewusstsein“ von Tom Amarque zu einem mehr als anregenden Erkenntnisprozess. Doch darüber hinaus entwickelt der Autor Ansätze für eine Lebenskunst der Postpostmoderne, welche über rein deskriptive Elemente hinausgehen und Freude bereiten.
Dies ist ein Buch, welches eigentlich selbst nicht so recht weiss, in welche Schublade es gehört – ist es ein Ratgeber? Nicht wirklich – und doch auch wieder schon – für abstrakte Denker ist es ein willkommenes Statement zu den aktuellen Herausforderungen der Postmoderne, welches sich der Ratgeberform an manchen Stellen nicht verschließt. Ein philosophischer Essay? Auch dem könnte man zustimmen und so wird das Buch selbst, die Form die es wählt, zu einem Transgress ins Unbekannte, was vermutlich nicht ganz ungewollt ist.
In der Postmoderne wurde kulturell mit der Formlosigkeit die Form entwertet, die in der Moderne noch so hoch gehalten worden war. Daher: Relativismus. Daher: Transgression ins Unbestimmte. Wir können die Postmoderne, und alle möglichen folgenden Epochen, seien sie subjektiv oder intersubjektiv, nicht ausreichend ohne diesen besonderen Aspekt verstehen: Mit der Postmoderne wurde das Nichts neu erschlossen. (S.148)
Besonders ansprechend ist das Buch für aufgeweckte Denker, die den zeitgenössischen Gesellschaftsdiskurs verfolgen, beispielsweise die sozialkonstruktivistische Gender These, welche die Rolle von Narrativen hervorhebt. Damit knüpft das Buch an Theorien über die Postmoderne an wie sie z.B. von Stephen Hicks oder auch Dr. Jordan B. Peterson dargestellt werden. Ist die Art wie wir unsere Identität erleben letztlich nur eine Form von Erzählung, die ebenso auch anders ausfallen könnte, wenn wir uns darum bemühen? Diese Fragestellung wird nicht einmal mehr gestellt, sondern der sich daraus ergebende Relativismus implizit vorrausgesetzt. Erkenne dich selbst ist seit Urzeiten ein Leitspruch westlichen Denkens und wird in diesem Buch vorzüglich aus unterschiedlichsten Perspektiven durchexerziert. Dabei sind die Streifzüge in „Narratives Bewusstsein“ meist abstrakt und haben nur selten Bezug auf konkrete geschichtliche Ereignisse – was jedoch nicht negativ ins Gewicht fällt.
In dieser Hinsicht können wir auch alle Narrative, die uns begegenen dahin gehend untersuchen, ob sie grenzbildend, grenzverschiebend, grenzüberschreitend oder bewusst grenzbestimmend sind. (S.149)
Unterscheidungen wie z.B. diese sind es, die den Begriff der Narration immer wieder auflockern, zersetzen und neu zusammensetzen, sodass sich neue innere Gebilde von vormals scheinbar Bekanntem zusammensetzen. Hier erfüllt das Buch künstlerische Ansprüche und sensibilisiert den Geist.
Hochinteressant dürfte das Buch für all jene sein, die dem evolutionären Modell, beispielsweise der Spiral Dynamics oder anderen Bewusstseinsevolutionen gegenüber aufgeschlossen sind. Es gibt zahlreiche implizite oder explizite Bezüge zu Bewusstseinsforschern wie Ken Wilber oder Allan Combs. Die themennähe zur Bewusstseinsforschung dürfte kaum verwundern, pendelt das narrative Bewusstsein selbst zwischen Form und Formlosigkeit, Sein und Werden, Chaos und Geschichte. So kommt natürlich auch die Meditation und andere Techniken zur Sprache, welche sich der Dekonstruktion von Narration widmen.
Wir wählen unsere Perspektiven, unsere Weltentwürfe und Lebenspraxen. Wir kodieren unser Verständnis des Seins und unser Verhältnis zum Unbestimmten, zum Nichts. Und wir hätten all dies auch anders tun können. Das heißt, ein Ansatz, der über die Postmoderne hinausgeht und den Transgress ins Unbestimmte verarbeiten kann, muss in diesem Sinne immer eine Ironie sich selbst gegenüber mitliefern, denn sie selbst ist ein Konstrukt aus der Leere, die nur durch eine operationale „als-ob“ Haltung zustande kommen kann. (S.157)
Die erste Hälfte liest sich zügig weg und man hat trotz vieler intellektuell anspruchsvoller Bezüge ein Flow Erlebnis, bei welchem man aufgrund der abstrakten Form des Inhalts kreative Eigenbezüge zu eigenen Denkschemata und konkreten Situationen im eigenen Leben herstellt. Es verdient Respekt, dass die Denkfigur des Narrativs hier gnadenlos durchexerziert wurde. Die eigene Realität wird als gestaltbare Narration betont, durch die wir letztlich Kontrolle über unser Werden gewinnen können.
Ein Narrativ gewinnt seine Bedeutung durch seine Funktion der Immunisierung, durch welche die Distanz zur Welt und zu dem transzendenten Anderen aufgebaut werden kann. (S.160)
Dabei werden die Narrative nicht nur als Visionen und Handlungsrahmen gedeutet, sondern auch als Immunisierung gegen das Andere oder als Lückenfüller für Freiräume in denen sich das Chaos auftut.
Wie in der Salutogenese (Anm.d.Red.:Gesundheitsentstehung) gedacht, sind wir nie nur gesund oder krank; wir bewegen uns auf einem Spektrum. Spannungsfelder sind eine Grundbedingung unserer Existenz. Leben heißt, mit solchen Spannungsfeldern zu leben, sie zu nutzen, aufzuspannen, mit diesem selbstreferenziell aufgebauten Existenzdruck umgehen zu können und ihn in Handlung zu überführen. (S. 186)
In einigen Passagen schießt Tom Amarque aber auch über das Ziel hinaus, so wird beispielsweise der Wille als Phänomen beschrieben, welches erst seit der Moderne mit der Idee des Individuums in unsere Gesellschaft fließt um eigenmächtig Widerstände zu überwinden. Auch wenn die Idee des Individuums sich in der Moderne herauskristallisierte und Tom Amarque dies in diesem Zusammenhang verstanden wissen möchte, so leuchtet seine These in dieser Pauschalität an dieser Stelle letztlich nicht ein. Auch einige Flüchtigkeitsfehler wie z.B. fehlende Buchstaben stören an einigen wenigen Stellen den Lesefluss.
Und doch ermöglicht ein narratives Bewusstsein, eben seine Geschichten und konsequenterweise damit auch seine Gedanken, Stimmungen und Gefühle selbst wählen zu können. Deshalb nenne ich diese techné nach der Postmoderne auch eine fröhliche Lebenskunst. (S.232)
Ein hoher Anspruch den der Autor hier an diese techné – ein Mischbegriff zwischen Technik und Lebenskunst – stellt. Die Selbstgestaltungskraft des eigenen Schicksals wird hier für meine Begriffe überstrapaziert – schließlich sind nicht nur wir es, die unsere Narrationen wählen, sondern auch die anderen sind gewissermaßen unsere Verfasser. Etwas zu düster und technisch für meinen Geschmack kommen einige Passagen daher, in denen Narrative als Abgrenzung von der Dunkelheit des Chaos illustriert werden. Dennoch ist es ein Buch das wunderbar anregt die eigenen Konstrukte einmal näher und von verschiedensten Seiten her zu betrachten und nicht zuletzt auffordert sich seinem eigenem Thymos anzuvertrauen, d.h. jene Lebenskraft die das unerhörte, nicht gewagte wagt und sich neue Horizonte erschließt. Ein angenehmes und anregendes Leseerlebnis, welches ich nicht missen möchte.
Fazit: Ein muss für jeden philosophisch gesinnten Leser mit Sympathien zur Bewusstseinsevolution.
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