Matthias Thiele, geboren 1972, ist freier Autor, Publizist und Diplom-Psychologe. Nach mehreren Sachbüchern und einem Roman erschien 2019 im Phänomen-Verlag „Sei! Du! Selbst! Eine Kritik des Radikalen Humanismus“.
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes.
Spengler gilt als erzkonservativer Denker und einer der letzten Universalgelehrten. Doch keine Scheu vor diesem Buch; auch die ihm fälschlich mitunter nachgesagte Nähe zu den Nazis erweist sich als haltlos. Nachdem er die Nachfrage Goebbels`, die Nationalsozialisten zu unterstützen, abschlägig beschieden hatte, ordnete der Propagandaminister an, Spengler fortan aus allen Medien fernzuhalten und ihn generell totzuschweigen. Spengler selbst nannte die Nazis „braunes Pack“, und diese waren auch der Grund dafür, fortan den Bayreuther Festspielen fernzubleiben.
„Der Untergang des Abendlandes“ ist in selten schöner Sprache geschrieben, in jeder Zeile schwingt eine tiefe Liebe zur abendländischen Historie mit. Kaum eine Seite lässt sich lesen, ohne dass man Stoff hätte, die nächsten zwei Wochen darüber nachzudenken. Sein Weltbild ist fortschrittskritisch – vielmehr beschreibt er Kulturen (die griechische, römische, chinesische, hinduistische, aztekische und weitere liefern ihm das Referenzmaterial) als organismisch, nicht unähnlich Pflanzen, die wachsen, sich an die natürlichen Gegebenheiten anpassen, zu ihrer ganz eigenen und unvergleichbaren Blüte gelangen, und letztlich wieder verblühen. Ohne die Pointe zu verraten, sei gesagt, dass er für die abendländische Kultur die eigentliche Blüte bereits in der Vergangenheit zu erkennen meint.
Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart.
In den fünfziger Jahren geschrieben, erkundet der Schweizer Philosoph Gebser die Geschichte des Bewusstseins des Menschen anhand von Eigenschaften der Sprache, der Kunst, der Architektur und der Art des jeweiligen Erkenntnisgewinns in den verschiedenen historischen (und prähistorischen) Epochen des Menschen. Ähnlich wie Spengler bezieht er jede Menge historische Evidenzen in seine Argumentation ein, kommt aber zu einem ganz anderen Schluss: Er meint, aufeinander folgende Stufen der Bewusstseinsweite des Menschen zu erkennen, die umfassender und einschließender werden und die kognitiven Errungenschaften ihrer „Vorgänger“ in sich einschließen. Ein bahnbrechendes Werk, ohne das etwa die Philosophie eines Ken Wilber nicht möglich gewesen wäre.
Durch die vielen Beispiele und konkreten Referenzen, etwa aus Sprache, Grammatik oder künstlerischem Ausdruck, ist dieses dreibändige Buch auch jenseits seiner Grundhypothese in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich inspirierend.
Johann Wolfgang von Goethe: Faust I
Eine Erklärung erübrigt sich in diesem Fall.
Nur eine kleine Anmerkung: Es ist ziemlich erstaunlich, dass der grundsätzliche Pantheismus und das unverblümte Heidentum des Stückes weder an der Popularität noch am Respekt und der hohen Achtung, die Faust I genießt, irgendetwas ändern konnte. Und das zu jener damaligen Zeit in einem durch und durch christlichen Europa.
Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel.
Ein spannender Roman, wenn man es geschafft hat, sich durch das erste Kapitel zu quälen. Dieses allerdings ist tatsächlich vollkommen unverständlich. Ab dem zweiten Kapitel wird der Tonfall entspannt, modern, das Italien der Achtziger Jahre mit all seinen politischen Wirren und seinem genussfreudigem Treiben entfaltet sich aus Sicht des jungen Historikers und Verlagslektors Casaubon. Mit seinen beiden Kollegen redigiert er esoterische Texte versponnener Autoren und greift auf die Hilfe des sowohl zwielichtigen als auch außerordentlich gebildeten Privatgelehrten Aglié zurück. Die drei Kollegen beschließen aus intellektueller Langeweile, einen eigenen „großen Plan“ ganz im okkulten Stil und unter Einbezug aller esoterischer und okkulter Theorien, der sie aufgrund ihrer Tätigkeit habhaft werden konnten, zu entwickeln. Sie bewegen sich als Zyniker im pathologischen Feld von okkulten Verschwörungstheorien und bemerken zu spät, wie sehr dieses Denken ihr eigenes bereits durchdringt.
Dieses Buch ist nicht nur ein Roman, sondern nebenbei schon nahezu ein Nachschlagewerk europäischer Geistesgeschichte. Die Sprache ist dank des deutschen Übersetzers auch in Deutsch schlicht großartig. An diesem Buch stimmt alles, Dramaturgie, Charaktere, Sprache, und schlussendlich bleibt ein beklemmendes Gefühl zurück, wenn man feststellt, dass man nun das erste Kapitel problemlos versteht.
Juli Zeh: Unterleuten.
Abschließend ein aktueller Roman. Juli Zeh ist eine der bedeutendsten Denker (Wenn ich schriebe „Denkerinnen“ könnte man annehmen, ich meinte, sie sei lediglich unter den weiblichen Denkerinnen herausragend; ich meine das aber ganz allgemein, deshalb die tradierte Form grammatisch männlich, semantisch geschlechtsneutral.) im deutschsprachigen Raum, nicht nur in Literatur, sondern auch in nüchterner und weitblickender Gesellschaftsanalyse und –kritik.
„Unterleuten“ ist eine Miniatur der mitteleuropäischen gegenwärtigen Kultur, eine Verdichtung dessen, was die verschiedenen Schichten und sozialen Gruppierungen im Großen wie im Kleinen umtreibt. Auffällig ist die Stringenz, mit der Inhalt und Form (also Sprache) in eine zwingende Dramaturgie gefasst werden. In anderen Büchern Zehs, etwa „Spieltrieb“ waren die Sätze oft lang, selbst in Nebensätzen wurden noch schnelle Bilder skizziert. Anders in „Unterleuten“. Kurze Sätze, kein Wort zu viel, nur was nötig ist, um die Szenen entstehen zu lassen. Diese sprechen für sich. Die Verwicklungen der einzelnen Protagonisten miteinander und untereinander erzeugen eine Spannung, die nicht auf das (dem Roman den Namen gebenden) Dorf Unterleuten beschränkt bleibt. Unterleuten könnte Deutschland sein, oder die westliche Welt, wie wir sie derzeit erleben. Wen dieses Buch kalt lässt, dem ist nicht zu helfen.
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Wir danken Matthias Thiele für die Auswahl von Büchern. Er ist Autor von bisher vier Büchern :
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