Jüngst las ich das Buch „Demystifying Shamans and Their World“ von Stanley Krippner, in dem er über den Schamanismus kontempliert und versucht, ein universelleres und abstrakteres Verständnis von schamanischen Weltanschauungen, Techniken und Bewusstseinsarealen zu entwerfen.
In einem Kapitel relativ am Anfang (S.24) versucht er verschiedene Theorien über den Schamanismus vorzustellen und einzuordnen, wie zum Beispiel der Schamanismus im Lichte psychologischer Modelle. Ein Modell stellt dabei auch die integrale Theorie von Ken Wilber dar, die mitsamt der Spiral Dynamics auf dieser Seite ausführlicher dargestellt wird. Das ganze ist recht knapp in These und Antithese strukturiert und ich möchte es an dieser Stelle für Interessierte am subtilen Raum und der integralen Theorie kurz zitieren :
These
Der amerikanische transpersonale Philosoph Ken Wilber (1981) unterteilte das, was er als höhere Bewusstseinszustände bezeichnete, in mehrere Kategorien. Seine Herarchie begann mit dem Subtilen (mit und ohne Ikonographie), ging weiter zum Kausalen (erfahren als reines Bewusstsein oder die Leere) und reichte bis zum Absoluten (die Erfahrung der wahren Natur des Bewusstseins).
Wilber (1981) räumte ein, dass Schamanen die ersten Praktizierenden waren, die systematisch Zugang zu „höheren Zuständen“ hatten, aber nur auf der Ebene der „subtilen Zustände“, weil ihre Technologie „primitiv“ war (S.142). Er spekulierte, dass gelegentliche ein Schamane in den kausalen Bereich vorgedrungen sein könnte, besteht aber darauf, dass kausale und absolute Zustände bis zum Aufkommen der meditativen Traditionen nicht systematisch erreicht werden konnten. Wilber ordnete den Schamanismus auf der fünften Ebene eines achtstufigen Spektrums ein.
Wilber (1981) unterstützte seine Position, indem er Beispiele aus Eliades (1989) klassischem Buch „Schamanismus: Archaische Techniken der Ekstase“ verwendete. Eliades Position war, dass „Schamanismus in einer beträchtlichen Anzahl von Religionen zu finden ist, denn Schamanismus bleibt immer eine ekstatische Technik“ (S.8). Eliade konstruierte jedoch eine eigene Hierarchie, indem er die Ansicht vertrat, dass der Gebrauch von bewusstseinsverändernden Pflanzen ein degenerierter Weg sei, um visionäre Erfahrungen zu erlangen. Nach Eliade sind jene Zustände, die „mit Hilfe von Narkotika“ erreicht werden, keine „echten Trancen“, sondern „Halbtrancen“ (S.24). Eliade fährt fort: „Der Gebrauch von Narkotika ist vielmehr ein Hinweis auf die Dekadenz einer Technik der Ekstase oder auf ihre Ausdehnung auf niedrigere Bevölkerungsschichten oder soziale Gruppen“ (S.477).
Antithese
Walsh (1990a) akzeptiert die Gültigkeit der Kategorien von Wilber (1981), entgegnet aber, dass Schamanismus eine mündliche Tradition ist. Wenn Schamanen höhere Zustände als die der subtilen Ebene erlebt haben, könnten ihre Berichte an die nachfolgenden Generationen verloren gegangen sein (S. 240); es besteht auch die Möglichkeit, dass Gelehrte die Mythen, die sich auf solche höheren Zustände beziehen, nicht richtig gelesen haben. Darüber hinaus waren einheitliche Erfahrungen, wie die von Wilber beschriebenen, keine Priorität der Schamanen, weil ihre Bemühungen auf den Dienst an der Gemeinschaft gerichtet waren (Krippner, 2000, S. 111; Walsh, 1990a, S. 240).
Als D.P. Brown und Engler (1986) Achtsamkeitsmeditierenden Rorschach-Tintenkleckse verabreichten, entdeckten sie, dass ihre Antworten die Stadien ihrer meditativen Entwicklung veranschaulichten und „die Wahrnehmungsveränderungen, die bei intensiver Meditation auftreten“ (S.193), widerspiegelten. Ein Rorschach-Protokoll war insofern einzigartig, als es alle 10 Tintenkleckse in ein einziges assoziatives Thema integrierte (S. 191). Klopfner und Boyer (1961) hatten jedoch ein ähnliches Protokoll von einem Apachenschamanen erhalten, der die Tintenkleckse nutzte, um den Prüfer über seine Weltsicht und seine Reisen durch das Universum zu unterrichten. Brown und Engler schlugen vor, dass es sich dabei um eine Reaktion handeln könnte, die unabhängig von der spirituellen Tradition „einen Weg für andere aufzeigt, die Realität klarer zu ’sehen‘, so dass ihr Leiden gelindert wird“ (S.214). Die Versuche der Schamanen, das Leiden ihrer Gemeinschaften zu lindern, und das, was Wilber ihre „primitive“ Technologie nannte, könnten für diese Aufgabe außerordentlich gut geeignet sein (Krippner, 2000, S. 111).
Wilber (1981) machte pauschale Verallgemeinerungen über Schamanismus, ohne die vielen Varianten schamanischer Erfahrung und die reiche Vielfalt schamanischer Traditionen anzuerkennen. Zum Beispiel identifizierte er „die klassische Symbolik des Schamanismus“ (S.70) als den Vogel, obwohl in einigen schamanischen Gesellschaften der Hirsch oder der Bär das zentrale Totem ist (Ripisnky-Naxon, 1993). Er behauptet, dass die „wahre“ schamanische Erfahrung „eine schwere Krise“ (S. 74) beinhaltet, obwohl es zahlreiche Berichte über schamanische Berufungen gibt, die keine Katastrophen beinhalten. In der Tat könnte die schamanische „Krise“ eine politische Strategie sein, die die Zahl der Anwärter auf die schamanische Rolle einschränkt (Krippner, 2000, S.111).
Auf Eliades Einwand, der Gebrauch bewusstseinsverändernder Drogen stelle eine degenerierte Form des Schamanismus dar, antwortet Ripinsky-Naxon (1993), dass „Eliade die entscheidende Rolle der Halluzinogene in [schamanischen] Techniken nicht erkannt hat“ (S.103). Die archäologischen Beweise deuten darauf hin, dass bewusstseinsverändernde Substanzen auf die vorneolithische Zeit zurückgehen und nicht eine spätere, degenerierte Ergänzung schamanischer Praktiken sind (S.153).
Fazit
Nach einem Überblick über die kulturübergreifenden Forschungsdaten warnte Coan (1987): „Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass der Schamanismus nur eine Stufe in der Evolution der menschlichen Gesellschaft oder in der Evolution des menschlichen Bewusstseins darstellt“ (S. 62). Wilbers (1981) zuweisung der Schamanen auf die subtile Ebene seiner Hierarchie der höheren Zustände ignoriert praktisch die Rolle, die Schamanen in ihrer Gemeinschaft spielten. Solche Schlagworte wie ‚Primitiv‘ und ‚Degeneriert‘ lassen die „Kultivierung von Weisheit“ (Wasl, 1990a, S. 248) außer Acht, die seit langem ein Kennzeichen des Schamanismus ist.
Wie auch bereits in dem Beitrag Ken Wilber und der subtile Raum dargestellt ist die integrale Theorie insbesondere im subtilen Raum sehr vage und unpräzise. Das soll aber die Leistung von Wilbers Modell nicht schmälern, sondern vielmehr Interessierte zum Weiterforschen anregen. Die hier zitierten Bezüge von Krippner auf Wilber beziehen sich auf den jungen Wilber. Im Laufe seiner Entwicklung hat Wilber sein Modell vielfach erweitert. Sein jüngstes Werk läuft unter dem Titel „Religion of Tomorrow“.
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