Vermutlich kennen die meisten Unterschied zwischen Sophisten und Philosophen. Sophisten behaupten, etwas genau zu wissen, während Philosophen eigentlich wissen, dass sie nichts wissen – vereinfacht gesagt. Zu wissen, dass man nichts weiss, scheint ein kluger Weg zu sein über die Dinge nachzudenken, wenn dies auch freilich seinen Preis hat. Eine liebgewonnene Gewohnheit zu hinterfragen und zu analysieren kommt bekanntermaßen schlecht an. Eine Frage kann gefährlicher sein als tausend Antworten. Hat man sich erst einmal die Frage gestellt, ob es einen integralen Menschen im Mittelalter gegeben hat, so wirft diese Frage große Schatten vorraus.
Gab es integrale Menschen schon zu allen Zeiten?
Diesem philosophischen Ansatz zu folgen, wohl ahnend, dass auch dieser keine klare befriedigende Antwort hervorbringt, kann sich als sehr fruchtbar für das Verständnis der integralen Theorie herausstellen. Es geht also darum, ob es beispielsweise im Mittelalter schon einen „integralen Menschen“ gegeben haben könnte. Stimmen wir zu, dann können wir Jesus, Buddha, Da Vinci und Co durchaus als Pioniere betrachten, welche den integralen Geist lange vor seiner Zeit gelebt haben. Problematisch ist dann allerdings der Grundgedanke der Spiral Dynamics – nämlich, dass die Struktur sich in evolutionärer Weise weiterentwickelt, ähnlich dem élan vital von Henri Bergson, und in unvorhersehbarer Weise immer neue, komplexere und tiefgreifendere Muster und Variationen entwickelt, welche auf die Individuen rückwirken (und gleichzeitig von ihnen ausgehen). Nach dem ursprünglichen Verständnis der Spiral Dynamics (nach Clare Graves) ist ein solch integraler Mensch im Mittelalter nicht möglich, da die Grundbedingungen dafür noch nicht geschaffen waren. Und auch die Frage nach dem Telos – dem Ziel der Spirale – wird davon berührt.
Gehen wir davon aus, dass die Spirale sich in der eben beschriebenen Weise entwickelt, so können wir nur ahnen, wie die nächste Welle ausschaut. Namentlich wurde sie zwar bereits mit der Farbe Koralle versehen, aber die konkrete Ausprägung dieser Welle ist noch weitgehend unbekannt. Einige Charakteristika können wir schon bestimmen, so ist das Denken natürlich durch die späte Schaulogik geprägt und die Dynamik Ich-Bezogen, doch darüber hinaus können wir diese Welle noch nicht ausreichend beschreiben. Es gibt einige Denker, welche sich dessen annehmen und darin beispielsweise eine co-evolutionäre Kraft der Liebe sehen (Maik Hosang), doch fehlt hier der methodische Zugang um diese Annahmen zu bestätigen oder zu verwerfen. Der Telos der Spirale ist in sich unendlich, unvorhersehbar und nicht von einem vorher bekannten Ziel bestimmt, so die ursprüngliche Theorie.
Würden wir also annehmen, dass einige Individuen bereits im Mittelalter ein integrales Bewusstsein ausgebildet haben, so könnten wir anhand dieser Pioniere Rückschlüsse auf eine zukünftige kollektive Bewusstseinsevolution ziehen. Dann wäre es möglich anhand der individuellen Bewusstseinsevolution beispielsweise vage zu umranden, was uns als Kollektiv erwartet. Es wäre eine Bewusstseinsevolution, wie sie beispielsweise in der Philosophia Perennis vorgezeichnet ist. Und somit wäre die Bewusstseinsevolution individuell wie auch kollektiv einem archetypsichen, vorher bestimmbaren Plan unterworfen. Diesen Ansatz können wir als innerlich-geistgie Ausrichtung verstehen (archetypische geistige Muster, welche unsere Entwicklung bestimmen) – und dem gegenüber eine äußerlich-weltliche Ausrichtung (systemisch bedingte Welten, welche unsere Entwicklung bestimmen).
Nun zeichnet sich die Integrale Theorie gerade dadurch aus beide Ansätze zu vereinen und sieht somit die innere Entwicklung (linker Quadrant) mit der äußeren Entwicklung (rechter Quadrant) verwoben. Allerdings muss man sich dennoch eingestehen, dass hier ein Widerspruch entsteht in der Art, wie wir die Spirale der Entwicklung betrachten.
Mögliche Lösungsvorschläge
Eine mögliche Lösung ist, die Spirale als wiederkehrendes Muster zu verstehen, verwandt mit der Theorie der ewigen Wiederkehr von Nietzsche. Somit gäbe es beispielsweise bereits postmoderne Ansätze im alten Rom kurz vor der Kaiserzeit des Augustus, in welchem universelle Ansätze das Identitätsgefühl der Römer stark in Frage stellten. Dann müssten wir die Linearität der Spirale audröseln und als fragmentarische Ausdrucksformen aller Kulturen entziffern – in einer zeitlosen Gültigkeit.
Auch Mutlidimensionalität ist ein Gedanke, welcher dort mit hinein spielt, denn losgelöst von starren Raum-Zeit Vorstellungen wären diese Entwicklungsmuster wie in einem kollektiven Menschheitsgedächtnis abrufbar – ähnlich einer Akasha Chronik – auch von Einzelnen unabhängig des Zeitrahmens in dem sie leben. Wir sehen, dass wir hier ein wackeliges Terrain betreten, in welchem der methodisch-wissenschaftliche Anspruch der Spiral Dynamics im Sinne von Clare Graves nicht länger haltbar ist.
Ein anderer Gedanke der naheliegend ist wäre, die früheren Entwicklungen nicht als integral, postmodern oder ähnliches zu bezeichnen, sondern sich an die entsprechende Einordnung zu halten. Man orientiert sich also an der ursprünglichen Auffassung der Spiral Dynamics und sieht die Bewusstseinsevolution als linear an. Hier wäre es wahrscheinlich elegant zu sagen, dass Jesus zwar nicht integral war, aber erleuchtet. Es wäre naheliegend einen Erleuchtungsbegriff, eine Seinsdimension neben der integralen Landkarte einzuführen. Die Kategorien subtil, kausal und nondual legen solche Gedanken nahe. Doch auch hier kommen wir mit der Theorie nach Ken Wilber in Schwierigkeiten, führt die Linerarität der Spirale doch letztlich in die Bereiche subtil, kausal und nondual mit hinein. Man müsste diese Kategorien dann also konsequenterweise komplett von der Spirale lösen.
Wie auch immer man sich zu dem Problem verhält – wissen kann man es wohl nicht und es bleibt vermutlich eine Glaubensfrage, welchem Weg man mehr geneigt ist.
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