Der Psychologe Erich Neumann hat direkt an den Arbeiten von Carl Gustav Jung angeknüpft und die relativ ungeordneten bildhaften Symbole Jungs zu einer Bewusstseinsentwicklung herausgearbeitet. In seinem Werk „Ursprungsgeschichte des Bewusstseins“ schildert Erich Neumann seine Auffassung von symbolischen Prozessen im menschlichen Bewusstsein, die eine chronologische notwendigkeit evozieren. Das Modell ist dabei kompatibel mit dem Modell der Spiral Dynamics, ist aber in seinen Inhalten deutlich mythologischer und bildhafter. Die Bewusstseinsstufen bei E.Neumann werden in mehreren Beiträgen illustriert und beschrieben. Diese Stufe entspricht in Spiral Dynamics Beige und vor allem Purpur.
1. Uroboros – symbiotische Verschmelzung – fruchtbare/furchtbare Urmutter
Für die damaligen Menschen ist der Schöpfungsakt noch nicht sinnhaft nachvollziehbar, die Kinder entspringen plötzlich dem Schoße der Mutter. Das Leben selbst entspringt ihr gewissermaßen. Die Mutter ist Gebieterin, Herrin über das Leben. Auch die Archetypen sind noch nicht deutlich ausdifferenziert, so erscheint beispielsweise die ägyptische Göttin Isis als Mutter und als Schwester, als fruchtbare Gottheit (Kuh), wie auch als furchtbare Gottheit (Löwin). Das Unterbewusste, äußere Leben, ist überwältigend. Von Ägypten bis Indien, von Kleinasien und Griechenland bis tief nach Afrika hinein wurde die „Große Mutter“ verehrt. So bildete sich damals in diesen Kulturen ganz natürlich ein Matriarchat, eine Herrschaft der Frauen. Herodot berichtete über die Sitten der Ägypter zu einer Zeit, in der das Matriachat schon nicht mehr in seiner Blüte war:
Ich will nun ausführlich von Ägypten erzählen, weil es mehr wunderbare Dinge und erstaunliche Werke enthält, als alle anderen Länder. Darum müssen wir es genauer beschreiben. Wie der Himmel in Ägypten anders ist als anderswo, wie der Strom anders ist als andere Ströme, so sind auch die Sitten und Gebräuche der Ägypter fast in allen Stücken denen der übrigen Völker entgegengesetzt. So gehen in Ägypten die Frauen auf den Markt und treiben Handel, und die Männer sitzen zuhause und weben. Und die anderen Völker schlagen beim Weben den Einschlag von unten nach oben fest, die Ägypter von oben nach unten. Die Männer tragen die Lasten auf dem Kopf, die Frauen auf den Schultern. Die Frauen lassen ihr Wasser im Stehen, die Männer im Sitzen. Die Entleerung macht man im Hause ab, essen tut man auf der Straße. Sie geben als Grund dafür an, daß man natürliche Bedürfnisse soweit sie häßlich sind, im geheimen, soweit sie nicht häßlich sind, öffentlich befriedigen müsse. Priesterämter, sowohl bei männlichen wie bei weiblichen Gottheiten, versehen nur die Männer, nie die Frauen. Für den Unterhalt der Eltern zu sorgen, werden nur die Töchter gezwungen; die Söhne brauchen es, wenn sie nicht wollen, nicht zu tun.
Die große Mutter galt dort jedoch nicht nur als Göttin der Fruchtbarkeit, sondern auch als Jagd- und Kriegsgöttin, ihre Kulte sind blutig, ihre Feste orgiastisch. Alle diese Züge hängen wesentlich miteinander zusammen. Das Urphänomen hinter der Beziehung von Weib, Blut und Fruchtbarkeit ist aller Wahrscheinlichkeit nach das Aufhören der Menstrualblutung während der Schwangerschaft, durch das der Embryo nach der urtümlichen Auffassung aufgebaut wird.
Dieser intuitiv gesehene Zusammenhang ist der Kern der Beziehung des Blutes zur Fruchtbarkeit. Blut bedingt Fruchtbarkeit und Leben, ebenso wie Blutvergießen Lebensverlust und Tod bedeuten. Darum ist Blutvergießen ursprünglich stets ein sakraler Akt, ganz gleich ob es sich um das Blut des Wildes, des Haustieres oder des Menschen handelt, das vergossen wird. Die Herrin der Blutzone ist das Weib – sie besitzt den „Blutzauber“, der das Leben entstehen lässt. Deswegen ist oft dieselbe Göttin Herrin der Fruchtbarkeit, des Krieges und der Jagd. Der Ambivalenzcharakter der großen Muttergöttin ist, wenn wir von Indien absehen, am deutlichsten in Ägypten, wo die großen Göttinnen, hießen sie nun Neith oder Hathor, Bastet oder Mut, nicht nur nährende, webende, lebenspendende und -erhaltende Gottheiten sind, sondern auch Göttinnen der Wildheit, der Blutgier und des Verderbens. (E.Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, S.55)
Die Faszination des Sexus und die Orgie des Rausches, des Unbewußtwerdens und des Todes sind hier miteinander verbunden. Der von der Großen Mutter geliebte Jüngling erfährt den orgiastischen Charakter der Sexualität und im Orgiastischen Aufhebung, die Übersteigerung und den Tod des Ich. Im späteren Uroboros-Stadium ist sich der Jüngling des überwältigenden Ich-Verlustes bewusst, doch noch ist die Mutter zu groß, der Herkunftsort des Unbewußten zu nah, sodass eine Ichfestigkeit unmöglich ist. Prägnant für die große Muttergottheit ist die Rückauflösung der Persönlichkeit und des individuellen Ichbewusstseins.
Darum ist der Wahnsinn ein immer wiederkehrendes Symptom des Ergriffenseins von ihr oder von ihren Stellvertreterinnen. Denn, und dies macht den Zauber und Fruchtbarkeitscharakter des Weiblichen aus, der Jüngling entbrennt, auch wenn ihm der Tod droht, auch wenn die Erfüllung der Begierde mit Sterben und Kastration verbunden ist. So ist die Große Mutter die zauberische den Mann in das Tier verwandelnde Kirke, die als Herrin der Tiere das männliche opfert und zerreißt. Gerade als Tier dient das Männliche ihr, denn sie beherrscht die Tierwelt der Instinkte, die ihr und ihrer Fruchtbarkeit dienen. So erklärt sich die Tiergestalt der männlichen Begleiter der Großen Mutter, ihrer Priester und Opfer. Darum hießen z.B. die der großen Göttin geweihten Männer, die in ihrem Zeichen sich prostituierten, Kelabim, Hunde, und trugen Frauenkleidung. Der Jünglingsgott bedeutet Glück, Glanz und Fruchtbarkeit für die große Mutter, sie aber bleibt ihm ewig untreu und bringt ihm Unglück. Zu recht antwortet daher schon Gilgamesch auf die Verführung der Ischtar als „auf Gilgameschs Schönheit das Auge hob die hehre Ischtar“:
»O Herrin, behalte für dich deine Reichtümer !
Mir genügt mein Gewand und mein Hemd;
Mir genügt meine Kost und meine Nahrung!
Esse ich doch göttliche Speisen,
Trinke ich doch königlichen Wein!
Einer Hinterthür gleichst du, die nicht zurückhält Wind und Sturm,
Einem Palaste, der die Helden zerschmettert,
Einem Elefanten, der seine Decke herunterreißt,
Dem Erdpech, das seinen Träger niederbeugt,
Einem Schlauch, der seinen Träger belästigt,
Einem Kalkstein, der eine Steinmauer nicht trägt,
Einem Jaspis, der geraubt ist aus Feindesland,
Einem Schuh, der seinen Besitzer drückt!
Welchen deiner Gatten liebtest du ewig,
Welcher deiner Schäfer vermochte dich zu fesseln?
Wohlan, ich will aufzählen alldeine Buhlen,
Will der Rechnung Summe ziehen!
Den Tammuz, deinem Jugendgeliebten,
Hast Jahr für Jahr du Klagen bestimmt.
Den bunten Schäfer gewannst du lieb:
Du schlugst ihn, zerbrachst ihm die Flügel,
Nun steht er im Walde, ruft ›kappi‹.
Du liebtest den Löwen, den kraftgewaltigen,
Sieben und abermals sieben grubst du ihm Fanggruben.
Du liebtest das Roß, das kampfesfrohe, Peitsche, Sporn
und Geißel bestimmtest du ihm,
Sieben Meilen zu jagen bestimmtest du ihm,
Aufgewühltes Wasser zu trinken bestimmtest du ihm,
Seiner Mutter Silili
bestimmtest du Klagen.
Du liebtest den Hirten, den Hüter,
Der ständig dir Asche streute,
Täglich dir Zicklein schlachtete:
Du schlugst ihn, in einen Wolf verwandeltest du ihn;
Es verjagen ihn sein e eigenen Hirtenknaben,
Und seine Hunde zerbeißen ihm die Schenkel.
Du liebtest Ischullanu, den Gärtner deines Vaters,
Der ständig dir Sträuße brachte,
Täglich deinen Tisch schmückte; Adonis.
Ein Vogel, dessen Ruf wie »kappi« (d.i. »mein Flügel«) klingt.
Sonst unbekannt. Die Augen erhobst du zu ihm, ihn verlockend:
›O Ischullanu, deine Kraft wollen wir genießen!‹
. . .
Ischullanu spricht zu dir:
›Was verlangst du von mir?
Hat meine Mutter nicht gebacken, habe ich nicht gegessen?
Daß ich Speisen essen sollte,
die Böses und Fluch bringen!‹
. . .
Du hörtest diese seine Rede:
Du schlugst ihn, verwandeltest ihn in eine Fledermaus
. . .
Jetzt liebst du mich und wirst mich wie jene
behandeln
!«
Gilgamesh ist ein positives Beispiel, der es geschafft hat sich von dem Einfluss der Großen Mutter heldisch abzuheben und sein Ich-Bewußtsein zu wahren vor den verschlingenden aphroditischen (verführerischen) Trieben.
Die Große Mutter des Uroboros-Bewusstseins ist am Anfang fruchtbar, wird aber insbesondere für den Mann zum drohenden Untergang. Er differenziert sein Ich immer weiter aus und erkennt schließlich in der Großen Mutter ein Verhängnis, welches droht seine Individualität zu verschlingen. Die Sohngeliebten der Großen Mutter erliegen ihren Wünschen noch widerstandslos – schicksalsergeben. In dieser Stufe lebt unausgesprochen die Hoffnung und Frömmigkeit des Naturwesens, die Hoffnung des Menschen, wie die Natur von der Großen Mutter wiedergeboren zu werden aus der Voll- und Übermacht ihrer Gnadenfülle, ohne eigene Aktivität und ohne eigenes Verdienst. Männlichkeit und Bewußtsein haben noch keine Eigenständigkeit. Die Trauer dieser Stufe bleibt anonym. Diejenigen, welche zu mehr Bewusstsein drängen bilden den Übergang zur nächsten Stufe und werden zu Widerstrebenden, d.h. zu heldisch anmutenden Widersachern. Die Angst vor der Großen Mutter treibt sie zu aufkeimender Selbstgestaltung und Zentroversion.
Ausbruch aus dem Uroboros – die Widerstrebenden
Der erste Fluchtversuch ist die Selbstentmannung und der Selbstmord, welche wir wiederholt bei Attis, Eschmun und Bata finden. Hier führt die Trotzhaltung des Nichtliebenswollens doch zu dem, was die furchtbare Mutter fordert, nämlich zur Darbringung des Phallus, wenn auch mit negativem Vorzeichen. Die in Angst und Wahnsinn vor der Liebesforderung der Großen Mutter Fliehenden verraten in der Selbstentmannung noch die entscheidende Fixierung an das Zentralsymbol des Großen-Mutter-Kultes, den Phallus, und bringen ihn ihr dar, wenn auch bereits mit verneinendem Bewußtsein und protestierendem Ich. Diese Abwendung von der Großen Mutter als Ausdruck der Zentroversion ist deutlich in den Gestalten des Narziß, Pentheus und Hippolytos. Sie alle widerstehen der verzehrenden Liebesglut der großen Göttinnen, werden aber von ihnen oder ihren Repräsentanten bestraft. Bei Narziß, der nicht lieben will und sich schließluich in sein eigenes Bild tödlich verliebt,ist die Hinwendungauf sich selbst und die Abwendung vom Liebe fordernden, verschlingenden Objekt deutlich. Es ist aber unzureichend, hier nur die Betonung des eigenen Körpers und die Liebe zu ihm in den Vordergrund zu stellen. Die Tendenz eines sich selber bewußt werdenden Ich und Bewußtseins, d.h. eines Selbstbewußtseins und einer Selbstreflexion, sich im Spiegel zu sehen, ist ein notwendiger und wesentlicher Zug dieser Stufe. Die Entwicklung der Selbstgestaltung und Selbsterkenntnis als einer Bewußtwerdung des mensclichen Bewußtseins an sich selbst setzt hier entscheidend ein. Wir finden diesen Zug in der Jünglings- und Pubertätszeit der Menschheit ebenso wie in der Jünglings- und Pubertätszeit jedes menschlichen Bewußtseins und Individuums. Es ist eine notwendige Phase der Erkenntnis, die der Menschheit aufgegeben ist. Erst das verharren auf dieser Stufe wirkt tödlich. Nicht Auto-Erotik, sonder Zentroversion stellt sie symbolisch dar in der entwicklungsgeschichtlich notwendigen und richtigen Abwendung von der Fixierung an die Große Mutter. (E.Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, S.80-81)
Gescheiterte Loslösung von der Großen Mutter
Die bei Narziß sich selbst spiegelnde Reflexion des Ich, das sich von der Macht des Unbewußten freimachen will, wird zu einer Untergang bringenden Selbstliebe. Der selbstmörderische Tod des ertrinkenden Narziß ist der Untergang am Bewusstsein, am Ich. Die Narziß vergeblich liebenden Nymphen sind personalisierte Formen aphroditischer Kräfte, und ihnen zu widerstehen ist identisch mit dem Widerstand gegen die Große Mutter. Das sich die tödliche Verführung der Großen Mutter dabei sein eigenes Bild borgt, macht sie nur noch heimtückischer.
Auch Pentheus ist ein widerstrebender, der letztlich noch der Großen Mutter erliegt. Er stemmt sich gegen den rauschhaften Gott Dionysos, welcher zum Kreis der Großen Mutter gehört und wird letztlich durch dessen orgiastische Gewalt überwältigt. Wahnsinn, Tierverwandlung, Kastration – an ihm vollführt sich ein archetypisches Schicksal, bei dem er durch seine eigene Mutter getötet wird.
Eine weitere tragische Figur der Widerstrebenden ist Hippolytos. Aus Liebe zu Artemis, aus Keuschheit und aus Liebe zu sich selber, verschmäht er Aphrodite, verschmäht er die Liebe seiner Stiefmutter Phädra und wird auf Veranlassung des eigenen Vaters und mit Hilfe des Gottes Poseidon von seinen eigenen Pferden zu Tode geschleift. Aphrodite und Phädra gehören zusammen – sie sind die liebende Große Mutter, die den geliebten Sohn verfolgt und ihn, da er widerstrebt, umbringt. Die Keuschheit Hippolytos‘ steht nicht nur für die Ablehnung der Großen Mutter, sondern auch für die „solare Männlichkeit“, welche den höheren Gesetzen der Vernunft folgt und mit Licht, Sonne, Auge und Bewußtsein assoziiert wird. Sein Vater sieht darin jedoch einen arroganten Zug und glaubt letztlich der Verleumdung durch Phädra und verwünscht den Sohn. Der Vater hat noch einen Wusch bei Poseidon frei und befiehlt ihm seinen eigenen Sohn umzubringen. Er wird schließlich von Pferden, ein Symbol für die Triebwelt, zu Tode geschliffen. So wird auch Hippolytos zu einem tragischen Widerstrebenden.
Geglückte Loslösung von der Großen Mutter
Den Übergang zur nächsten Stufe bildet das Stadium, in dem die große Wiedergeburtskraft, der schöpferische Zauber der Mutter, neben dem Männlichen erhalten ist. Sie macht ganz und neu, bringt die Stücke zur Einheit, formt das Verwesende um zu neuer Gestalt und neuem Leben und führt über den Tod hinaus. Aber unabhängig von dieser Wiedergeburtskraft des Mütterlich-Weiblichen bleibt der männliche Persönlichkeitskern erhalten. Er stirbt nicht, sondern ahnt oder weiß von seiner künftigen Wiedergeburt. Es ist so, als ob ein Rest, das was die jüdische Legende das Knöchlein Lus nennt, unzerstörbar im Tode sei und in sich die Gewähr und Potenz künftigen Wiederlebendigwerdens enthalte. Im Gegensatz zu dem Uroboros-Inzest des Todes, in dem das embryonale Ich wie Salz im Wasser sich auflöst, ist das erstarkte ich auf ein Leben über den Tod hinaus eingestellt. Dies Leben ist zwar von der Mutter geschenkt, zugleich aber auf rätselhafte Weise durch den bleibenden Ichkern mitbedingt. (E.Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, S.89)
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